Ausgewählte Abhandlungen, Aufsätze und Vorträge
von
Professor Dr. Gustav Ruhland
zu seinem 50. Geburtstage (11. Juni 1910)
herausgegeben vom
Bund der Landwirte, Berlin

Gustav Ruhland.

In Hessenthal, im bayerischen Spessart, wurde Gustav Ruhland in einem Einödhof, der möglicherweise das „Wirtshaus im Spessart“ von Hauffs Märchen ist, am 11. Juni 1860 als Sohn eines Landwirts und Posthalters geboren. Er absolvierte die Realschule in Mainz und besuchte nach Beendigung des Militärdienstes das Technikum Langensalza. Nachdem er als Volontär und Verwalter auf verschiedenen größeren Gütern Norddeutschlands tätig gewesen war, kehrte Ruhland 1879 in die Heimat zurück, um nach dem Tode des Vaters die Bewirtschaftung des elterlichen Gutes zu übernehmen. Hier nahm er die Armut der Spessarter Kleinbauern und ihren harten Daseinskampf wahr. Die Besserung dieser Verhältnisse erschien dem Bauernsohn als eine Forderung des Gemeinwohls, als eine sozialpolitische Notwendigkeit. Der agrarische Solidaritätsgedanke ward in Ruhland lebendig. Die männlichste Begabung — der politische Sinn — drängte zur Betätigung. Und als in dieser Zeit unter Freiherrn von Thüngen-Roßbach in Franken die agrarische Agitation erwachte, nahm Ruhland temperamentvoll daran teil und wandte sich der Frage nach der Besserung der bäuerlichen Zustände mit ganzer Energie zu.

Die Absicht, sich als Landwirt selbständig zu machen, gab ihm Gelegenheit, nicht bloß die Mängel der bäuerlichen Erbrechtsverhältnisse am eigenen Leibe zu empfinden, sondern auch in einer Reihe von Einzelfällen die schweren Schäden unserer heutigen Grundmarktsverhältnisse kennen zu lernen. Daß die freihändige Preisbildung für landwirtschaftliche Grundstücke sehr schädlich ist, stand ja schon in allen Lehrbüchern über landwirtschaftliche Buchführung und über landwirtschaftliche Taxation; und zwar sollte nach diesen Büchern der Ertragswertanschlag sich mit dem wahren Wert von Grund und Boden decken. Da begegnete ihm folgendes Erlebnis in seiner Wirtschaft: Es kam die Zeit der Kartoffelbestellung. Der Kartoffelschlag war ein flachgründiger Lehmboden mit Letteuntergrund. Bis dahin waren gewohnheitsgemäß die Saatkartoffeln untergeackert worden. Sie kamen deshalb direkt auf den Letteuntergrund zu liegen. Wenn dann ein feuchtes Jahr kam, verfiel die Ernte zumeist der Fäulnis. Ruhland hatte in Preußen eine andere Art der Kartoffelbestellung kennen gelernt. Das ganze Feld wurde umgeackert, eingeebnet und dann wurden die Saatknollen auf das gebaute Land gelegt. Jetzt kam auf dem Spessartgut ein feuchtes Jahr, und trotzdem gab der Kartoffelschlag, dank der verbesserten Bestellungsmethode, einen sehr guten Ertrag. Dieses Erlebnis zeigte, daß auch der Ertragswertanschlag ein falscher Wertbegriff ist. In diesem Falle hatte die verbesserte Bestellungsmethode den Ertrag wesentlich gesteigert; damit stieg dann der Ertragswert und also der Uebergabepreis. Für den Uebernehmer aber, der die neue Methode eingeführt hatte, folgte daraus eine höhere Grundverschuldung. Die Arbeit auf dem Boden war nicht nur um den Lohn für die eingeführte bessere Methode gekommen, sie hatte dafür sogar eine höhere Schuldenlast zu tragen. Der „wahre“ Wert von Grund und Boden war offenbar auch nicht der Ertragswert, sondern der Buch oder Sachwert, wie er im Geschäftsverkehr für Handel und Industrie, in den Normativbestimmungen für Privateisenbahnen usw. längst bekannt ist. Dies alles mußte doch in den wissenschaftlichen Werken für Nationalökonomie stehen! Ein väterlicher Freund vermittelte dem Wirtschaftspraktiker diese Bücher, aber sie bereiteten ihm nur Enttäuschungen. Von all dem, was er selbst in der Wirtschaft erlebt hatte, stand kein Wort darin. Wohl aber fand er die merkwürdigsten Ausführungen über Grundrenten-Theorie, wodurch der wirkliche Zustand möglichst verdunkelt wurde. Aus diesem Konflikt zwischen Selbsterlebtem und den Theorien der Wissenschaft entstanden hinter dem Pflug und der Sense die beiden Erstlingswerke Ruhlands: „Agrarpolitische Versuche vom Standpunkt der Sozialpolitik“ (1882/83) und „Das natürliche Wertverhältnis des landwirtschaftlichen Grundbesitzes“ (1884), bei denen kein Geringerer als derjenige Nationalökonom, den auch Adolf Wagner, als den „allerersten“ der deutschen Schule bezeichnet hat, nämlich Albert E. F. Schaeffle, ratend und fördernd zur Seite stand. Schaeffle war es auch, der dem Schriftsteller Ruhland neben der Nationalökonomie namentlich noch Philosophie, insbesondere Trendelenburg und Kant, empfahl. Das Studium dieser färbte natürlich auf die Schreibweise Ruhlands aus dieser Zeit ab. Es ist bezeichnend, daß Ruhland dem ersten schulmäßigen Widerspruch bei Professor Schmoller begegnete (1883).

Inzwischen bot das Selbsterlebte für Ruhland immer neue Anregung. Die Kartoffelernte des Vorjahres war auf dem Hofe zumeist mißraten; um den vorhandenen Viehstand erhalten zu können, mußten Kartoffeln und etwas Mais zugekauft werden. Da kam die Steuerbehörde, um nach den damals in Bayern geltenden Bestimmungen die kleine Brennerei als „gewerbliche Brennerei“ zu besteuern (Bayerisches Gesetz vom 25. Februar 1880.) Zu dem Unglück, daß die Kartoffeln verfault waren, sollte auch noch als Strafe eine erhöhte Besteuerung kommen! Umfassende Gegenvorstellungen Ruhlands, in denen er bis an das Ministerium ging, wendeten die höheren Steuerforderungen ab. Und das neue bayerische Gesetz vom 20. November 1885 brachte in seinen Vollziehungsvorschriften eine neue Definition des Begriffes „landwirtschaftliche Brennerei“, eine Definition, die den Ruhland'schen Ausführungen entsprach, wonach der Schwerpunkt nicht mehr in der Verarbeitung der selbstgebauten Rohprodukte, sondern in der Verfütterung der ganzen Schlempe und in der Verwendung des erzeugten Düngers in der eigenen Wirtschaft lag. Das Reichsgesetz vom 24. Juni 1887 hat dann in seinem § 41 diese Definition übernommen (s. den Aufsatz „Ueber den Begriff der landwirtschaftlichen Brennerei“).

Bald nach Veröffentlichung seiner oben genannten Erstlingswerke — in denen, wie in Ruhlands gesamter wissenschaftlichen Betätigung die belebende Kraft den Erkenntnissen und Notwendigkeiten des praktischen Lebens entspricht, — wurde Ruhland von der Generalversammlung der bayerischen Landwirte zu Tölz eingeladen, das Referat über die Reorganisation des landwirtschaftlichen Kredits zu übernehmen. Dieser Vortrag hatte zur Folge, daß zur weiteren Untersuchung dieser Frage eine Kommission ernannt wurde, in der Ruhland die Berichterstattung zufiel; diesen Bericht erstattete er in der Schrift „die Lösung der landwirtschaftlichen Kreditfrage im System der agrarischen Reform“ (1886) an die nächstjährige Wanderversammlung in Augsburg. Da diese Kommission zumeist in München tagte, betrieb Ruhland jetzt seine nationalökomischen, juristischen und naturwissenschaftlichen Studien zunächst in München und später in Tübingen. In diese Zeit fällt die preisgekrönte Untersuchung über die Frage: „Welchen Einfluß hat die Reichsgesetzgebung auf die Entwickelung der bayerischen Landwirtschaft gehabt?“ und die Ausarbeitung einer amtlichen Denkschrift über „Die Entwickelung von Handel und Verkehr mit Getreide in Bayern in den letzten 100 Jahren“.

Durch eine glückliche Verkettung von Umständen ward Ruhland die Unterstützung des Fürsten Bismarck zuteil zur Ausführung einer Studienreise durch die Getreideproduktionsländer der Erde. In den Jahren 1888, 1889 und 1890 machte Ruhland Reisen durch Rußland, England, Indien, Australien, Nordamerika und die Donauländer. Als er von diesen Reisen nach Deutschland zurückkehrte, hatte der „neue Kurs“ bereits begonnen. Es erschienen nunmehr die größeren Reiseberichte: „Ueber Wirkung und Bedeutung der Schutzzölle“, „Ueber die Zukunft des Goldes und die Sueß'sche Theorie“, „Ueber den achtstündigen Arbeitstag und die Arbeiterschutzgesetzgebung der Australischen Kolonien“, „Ueber die australische und nordamerikanische Landgesetzgebung“ und „Ueber das Verfassungs- und Verwaltungsrecht des angloindischen Kaiserreichs“. — Alle diese Arbeiten Ruhlands waren auf Grund eingehender Beobachtungen an Ort und Stelle entstanden. So beruhte z. B. Ruhland's Beurteilung der Zukunft unserer internationalen Goldproduktion auf eingehender Besichtigung von über 200 Gold- und Silberbergwerken. Der Verfasser kam damals schon (1890) zu dem Schluß, daß die Goldproduktion der Erde bald einen ganz gewaltigen Aufschwung nehmen müsse, während Prof. Sueß in Wien, der damals als erste Autorität in Währungsfragen galt, bekanntlich in den achtziger Jahren behauptet hatte, die Goldproduktion der Erde gehe immer mehr zurück und sei ihrem Ende nahe.

Der 20. März 1890 hatte mit dem Reichskanzler von Caprivi den „neuen Kurs“ beginnen sehen. Die Landwirte erfreuten sich relativ guter Preise. Das waren ungünstige Zeitverhältnisse für „agrarpolitische Studien“. Der praktische Landwirt wollte in Ruhland wieder zur Betätigung kommen. Unter den verschiedenen Offerten, welche sich jetzt bei ihm einfanden, war eine, die ihm Gelegenheit bot, in Salzburg und Tirol einen Großgrundbesitz, der aus dem Aufkauf von einigen 40 stark verschuldeten großen Bauernhöfen entstanden war, zu organisieren, um eine Musterwirtschaft daraus zu machen. Aus dem Pinzgauer Rind sollte eine Hochzucht geschaffen werden. Weiden, Wiesen und Milchwirtschaft sollten auf einen möglichst hohen Stand gebracht werden. Hier bot sich ihm praktische Gelegenheit, wichtige nationalökonomische Theorien auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Karl Marx und nach ihm Liebknecht hatten behauptet, daß die moderne Produktionstechnik auch in der Landwirtschaft auf den Großbetrieb zusteuere; damit sei dann der Mittel- und Kleinbetrieb dem Untergang geweiht. Die Erfahrungen, die Ruhland in drei Jahren auf diesem Großbetrieb machte, hatten ihm gezeigt, daß die sozialdemokratische Theorie irrig ist. Eine intensive Zuchtwirtschaft bei Großbetrieb zeigt sich vielmehr als ganz unrentabel; hier blieb also die Herrschaft dem Mittelbetrieb. Dieser Nachweis gab dann dem Abg. von Vollmar Anlaß zu seinen bekannten Anträgen in den Jahren 1893 und 1894, welche zur Abzweigung der „Revisionisten“ unter den Sozialdemokraten führten.

Mit dem nach den Caprivischen Handelsverträgen eingetretenen starken Rückgang der Preise der landwirtschaftlichen Produkte im Jahre 1893 erhielt die agrarische Bewegung wieder einen neuen und lebhaften Impuls. Jetzt kehrte Ruhland zu seiner wirtschaftspolitischen Tätigkeit wieder zurück und habilitierte sich als Dozent für Nationalökonomie an der Universität Zürich mit einer Rede „Ueber die Grundprinzipien aktueller Agrarpolitik“. Neue Konflikte mit der herrschenden Lehre brachten ihm einen scharfen Streit mit Prof. Lujo Brentano, dem die Schrift „Agrarpolitische Leistungen des Herrn Lujo Brentano“ (1894) entsprang. Aber auch mit der herrschenden agrarischen Auffassung blieben Ruhland Differenzen nicht erspart. Seine auf Grund persönlicher Kenntnisnahme erworbene Ueberzeugung, daß die Goldproduktion der Erde bald rasch steigen werde, machte ihm die Zustimmung zum bimetallistischen Programm unmöglich. Ferner führte die Verarbeitung der Materialien, die er auf seiner Weltreise gesammelt hatte, ihn dazu, der allgemeinen Behauptung von der „riesenhaften Ueberproduktion in Getreide“ zu widersprechen. Im Sommer 1894 berief der Bund der Landwirte auf Rat und Empfehlung Adolf Wagners Ruhland als volkswirtschaftlichen Berater nach Berlin. Bald darauf erschien Ruhlands Schrift: „Wirtschaftspolitik des Vaterunser.“ Damit war Ruhland in dieselben Bahnen gekommen, die Anfang der 60iger Jahre von dem genialen John Ruskin eingeschlagen worden waren. Auch dieser war zur schärfsten Verurteilung der wissenschaftlichen Nationalökonomie seiner Zeit gelangt, ohne jedoch ein neues und für die politische Praxis brauchbares Programm aufzustellen.

Ruhlands wirtschaftspolitische Ideen fanden jetzt in seiner engen Fühlung mit dem Bunde der Landwirte immer neue Anregungen zum Ausreifen. In der Kreditkommission des Bundes gelang es zwar nicht, zwischen den praktischen Bedürfnissen des Tages und der Systematik Ruhlands eine Brücke zu bauen; aber wenige Monate später (um Weihnachten 1894) führten Beobachtungen in den Verhältnissen der landwirtschaftlichen Kreditorganisationen zu der Ausarbeitung eines Planes zur Errichtung einer zentralen Geldausgleichsstelle für die Kreditgenossenschaften in Berlin. Dieser Plan wurde mit Zustimmung des Vorstandes des Bundes der Landwirte im Januar 1895 dem Finanzminister Miquel vorgelegt, der sofort das lebhafteste Interesse dafür bekundete; und schon im Oktober desselben Jahres begann die „Preußenkasse“ ihre segensreiche Geschäftstätigkeit.

In der Getreidehandelskommission des Bundes der Landwirte fand die Ruhland'sche Theorie, daß nicht die Ueberproduktion in Getreide, sondern die Gründertätigkeit der internationalen Großbanken mit den Spekulationen der verschiedensten Art den Rückgang der Getreidepreise im wesentlichen verschuldet habe, allgemeinere Zustimmung. Der 1. Internationale Agrarkongreß in Budapest (im September 1896) schloß sich ebenfalls der Ruhland'schen Auffassung an. Die dann in Deutschland folgende Antispekulations-Gesetzgebung ließ indes bald keinen Zweifel mehr, daß die auf- und abwärts gehenden Preisschwankungen nur durch eine moderne Syndikatsorganisation der Produzenten unter Einschluß des soliden Handels beseitigt werden können. Die theoretische Klarstellung dieses Programms bedingte sehr genaue und langjährige Beobachtungen der täglichen Getreidepreisbewegung. Zu diesem Zweck begründete Ruhland unter wesentlicher Mithilfe des Bundes der Landwirte, dem sich noch andere agrarische Organisationen in Frankreich und der Schweiz anschlossen, im Herbst 1899 in Freiburg in der Schweiz eine internationale Getreidepreiswarte; wohin Ruhland vorher einen Ruf als Professor für Nationalökonomie an dortige Universität erhalten hatte.

Neben diesen täglichen Beobachtungen auf dem internationalen Getreidemarkt beschäftigte Ruhland die Fertigstellung seines „Systems der politischen Oekonomie in organischer Auffassung“, wozu der erste Entwurf schon 1883 unter dem Einfluß jener philosophischen Studien entstanden war, zu denen damals Schaeffle geraten hatte.

Aus der Getreidepreiswarte gingen die „Internationalen Mitteilungen zur Regulierung der Getreidepreise“ hervor, die bald darauf, infolge der Uebersiedelung Ruhlands nach Berlin, zur Wochenschrift „Getreidemarkt“ umgewandelt wurden. Als „Landwirtschaftliche Marktnachrichten“ erscheinen sie noch heute als Beilage der „Illustrierten Landwirtschaftlichen Zeitung“ (Berlin). —

Wie Ruhland überhaupt die Agrarfrage als ein internationales Problem erkannte und zu behandeln versuchte, so ist sein Name auch rühmlichst verknüpft, — und das ist in diesem Zusammenhange hier noch kurz zu erwähnen — mit der Gründung der bekannten „Internationalen Landwirtschaftlichen Vereinigung für Stand und Bildung der Getreidepreise“. Ruhland nämlich war es, den der Vorstand des B. d. L. schon im Sommer 1895 auf Reisen geschickt hatte, um zunächst mit hervorragenden Vertretern der Landwirtschaft in Oesterreich und Ungarn darüber Fühlung zu nehmen, wie diese Kreise über eine internationale landwirtschaftliche Entente zum Zwecke einer gründlicheren Aufklärung der Landwirte über die Marktlage und über die Preisentwickelung ihrer Produkte dächten. Ruhland fand dort freudige Zustimmung. Seinen guten Diensten hierbei ist es mitzuverdanken, wenn es im März 1901 in Paris endlich gelang, daß seitens der dort vertretenen 29 landwirtschaftlichen Verbände aus Dänemark, Deutschland, Spanien, Frankreich, Oesterreich-Ungarn, Portugal und der Schweiz einstimmig ein „Internationales Landwirtschaftliches Komitee für Stand und Bildung der Getreidepreise“ begründet worden ist, — ohne dessen vorbildliche Tätigkeit hinwiederum es kaum zur Gründung des jetzt bestehenden „Internationalen Agrarinstituts in Rom“ hätte kommen können. Ruhland wurde Sekretär für Deutschland dieses Komitees und schrieb als solcher 1903 in dessen Auftrage das allenthalben sehr geschätzte Buch: „Die Lehre von der Getreidepreisbildung“.

In seinem „System der politischen Oekonomie“ läßt Ruhland anstelle der materialistischen Geschichtsauffassung die „logische“ Geschichtsauffassung treten, die an dem Lebenslauf von 22 Völkern dargestellt und erwiesen wird. Auf diese Theorie hatte vor allem Fürst Bismarck hingewiesen mit den Worten: „Die logischen Revisionen der Geschichte sind noch genauer, als die unserer Oberrechnungskammer!“ Ihren theoretischen Abschluß haben diese systematischen Arbeiten Ruhlands in der „Orientierungstafel über die volkswirtschaftlichen Grundbegriffe des Freihandels, des Sozialismus, des Kathedersozialismus und der organischen Mittelstandsauffassung“ gefunden.

Heute sind die Schriften Ruhlands in dem Kairos-Verlag für aktuelle Wirtschaftspolitik, Berlin SW. 11, zusammengefaßt.

Als Nationalökonom ist Ruhland einer der konsequentesten Gegner des Freihandels. Er will Beseitigung des Freihandels im Gold-, Geld- und Kreditverkehr, im Verkehr der Massenprodukte des täglichen Bedarfs und schließlich auch im Verkehr des städtischen und ländlichen Grundbesitzes. Deshalb: Ausschluß der Mitwirkung des spekulativen Privatkapitals bei der Preisbildung und öffentlich-rechtliche Organisation der Gesellschaft neben dem Staate als planmäßige Zusammenfassung der lokalen Genossenschaften in nationale Syndikate — unter Beibehaltung des Privateigentums an den Produktionsmitteln — zu einer Regulierung der Preise auf der mittleren Linie. Ruhland will damit die Lösung der uralten Frage nach der gerechten Entlohnung der Arbeit auch durch die allgemeine Einführung des „gerechten“ Preises für alle Arbeitsprodukte wie für alle Arbeitswerkzeuge.

Das alles ruht auf der „organischen Auffassung des Menschen“, wie sie zuletzt in Deutschland von Trendelenburg und Schaeffle vertreten worden ist.

Zur Kennzeichnung der Persönlichkeit Ruhlands und seiner politischen und wissenschaftlichen Betätigung hat der von ihm siegreich durchgeführte Beleidigungsprozeß Ruhland/Biermer vor der Berufungskammer des Landgerichts Berlin am 10. und 11. Januar 1910 bemerkenswerte Beiträge geliefert.

Wir meinen die Gutachten der Sachverständigen, Exzellenz Prof. Dr. Adolf Wagner und Prof. Dr. Sombart, aus denen wir die charakteristischen Stellen nachstehend hervorheben wollen.

Exzellenz Wagner sagte u. a. aus:

Ich bin zuerst auf Ruhland aufmerksam gemacht worden durch denjenigen deutschen Nationalökonomen, den ich als den „allerersten“ anerkannt habe, das war Schaeffle, der zwar nicht viel älter war als ich, und den ich doch gern „meinen Lehrer“ nenne. Ein Teil meiner eigenen Arbeiten geht auf Anregung Schaeffles zurück. So war sein sachliches und persönliches Urteil für mich von besonderer Bedeutung. Als Anfang der 80iger Jahre die ersten Arbeiten von Ruhland erschienen sind, habe ich im Briefwechsel oder mündlich über ihn gesprochen, und Schaeffle stellte Ruhland wissenschaftlich sehr hoch. Die ersten Arbeiten Ruhlands haben diesen Eindruck bestätigt. Ich bin Anschauungen begegnet, die auf richtigen Gedanken beruhten und es war eine innere Verwandtschaft vorhanden, ohne daß ich im einzelnen das, was Ruhland vertreten hat, durchaus billige. . . . Für mich ist der Beweis geliefert, daß Ruhlands wissenschaftliche Entwickelung und seine, wenn auch wechselnde Stellungnahme und Beurteilung wirtschaftspolitischer Maßregeln 3. 4. und 5. Ranges, im Ganzen doch etwas in sich Einheitliches ist. Der behauptete Gesinnungswechsel kann auch als Folgerung aus seiner Grundidee genügend erklärt werden, ohne ihn auf äußere egoistische Beweggründe zurückführen zu müssen. Als die Anfrage aus den Kreisen des Bundes der Landwirte an mich herantrat: Können Sie eine Persönlichkeit aus wissenschaftlichen Kreisen empfehlen, die die mehr wissenschaftlichen Arbeiten des Bundes mit erledigen könnte? da habe ich Herrn Prof. Ruhland aus bester Ueberzeugung genannt und in dem Gedanken, daß ich sonst eigentlich kaum noch einen wisse, der sich, bei allen Abweichungen im einzelnen, im großen und ganzen doch den Grundanschauungen nähere, die im Bunde der Landwirte vertreten werden. Denn die Ansichten des Herrn Prof. Ruhland sind doch die gewesen, daß unsere Rechtsordnung in dem Sinne zu ändern sei, daß die Landwirtschaft dauernd rentabel werde. . . .

Prof. Dr. Sombart: Ich möchte betonen, daß ich grundsätzlich mit dem Privatkläger (Ruhland) und seinen Anschauungen nicht übereinstimme. Ich stehe auf dem diametral entgegengesetzten Standpunkt zu seinen Anschauungen wegen der grundsätzlichen Betrachtungsweise der Dinge. . . . Der Privatkläger ist augenblicklich der energischeste Verfechter der sogenannten ethischen Nationalökonomie, welche die wissenschaftliche Erkenntnis ordnet unter ethischen Gesichtspunkten. . . . Die Frage nach der Wandlung des Privatklägers ist keine Frage nach der Wandlung seiner wissenschaftlichen Grundsätze, sondern eine Frage nach der Konstanz seiner Werturteile. Wenn man die Frage nach der Konstanz seiner Weltanschauung aufwirft, so bin ich der Meinung, daß der Standpunkt des Privatklägers, seine Bewertung wirtschaftlicher Phänomene, eine über das normale Maß hinausgehende Konstanz aufweist. Von der ersten Zeile, die er geschrieben, führt ihn der Weg in den Bund der Landwirte hinein, und jede einzelne Aeußerung von ihm, wo sie grundsätzlich hervortritt, ist in Einklang mit der Grundauffassung zu bringen. Welches ist die Grundauffassung? Es ist die antikapitalistische, die Bekämpfung des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Das ist die Grundauffassung von Anfang an, und sofern das Freihändlertum mit dem kapitalistischen Wesen identifiziert ist, ist der Privatkläger nie Freihändler gewesen. Alle seine Ueberzeugungen sind von diesem einen Grundgedanken beherrscht gewesen: Bekämpfung des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Das heißt Sozialist oder Mittelstandspolitiker sein. Sozialist ist der Privatkläger nie gewesen. Er hat die andere Alternative gewählt, er ist zunächst instinktiv, später mit Bewußtsein Mittelstandspolitiker. Faßt man den Privatkläger als einen stark von Instinkten beherrschten antikapitalistischen Mittelstandspolitiker auf, dann ist sein Lebensgang ein für meine persönliche Auffassung erstaunenswert gleichmäßiger. . . . Ich kann mich dahin zusammenfassen, daß äußerlich die Emanationen des Privatklägers scheinbar allerdings zu Widersprüchen kommen. Betrachtet man sie aber als Aeußerungen seiner Grundauffassung, einer ganz bestimmten Weltanschauung, so schwinden alle Widersprüche. . . . —

So urteilen über Ruhland ihm fernstehende hochangesehene Gelehrte als Sachverständige vor Gericht. Dieser Anerkennung von autoritativer Seite gegenüber verblassen für jeden Unbefangenen die mißgünstigen Beurteilungen und Anfeindungen, denen auch Ruhland natürlich nicht entgangen ist, wie ihnen jeder bedeutende Mann ausgesetzt zu sein pflegt, besonders wenn er, — noch dazu so temperamentvoll — politisch hervortritt. Wenn dabei auch die nationalökonomischen Kollegen Ruhlands in der Schar seiner Gegner so zahlreich vertreten sind, so beruht dies zumeist in der Eigenart seines Arbeitens: Der Werdegang seiner „Wissenschaft“ ist, um mit Berthold Otto zu reden, nicht so, daß aus den geschriebenen und gedruckten Sätzen der Früheren seine geschriebenen und gedruckten Thesen hervorgingen als die Wirkung aus der Ursache; er hat vielmehr schöpferisch sich betätigt: Er begnügt sich nicht damit, die früheren Meinungen darzustellen, um dann an diese früheren Meinungen seine eigenen Meinungen lediglich anzufügen; nein, Ruhland hat eigene Gedanken und hält den löblichen Brauch „zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht“ lediglich für eine Forderung der Höflichkeit, nicht der Wissenschaft. Und er war dabei immer der Meinung, auch solche Höflichkeit schulde man nur den Größten der Großen, nicht jedem beliebigen Dritten.

Ruhlands Freunde freilich, die den Gelehrten wie den Menschen genau kennen gelernt und mit ihm Jahrzehnte lang gelebt, gearbeitet und gekämpft haben, wissen auch ohne Sachverständigen – Gutachten und ohne Zunftverdikte, was der Mann wert ist!

Sie kennen, schätzen und lieben die unbestechliche und rücksichtslose Wahrhaftigkeit, die Ruhlands Forschung auszeichnet, ebenso wie die glückhaft - geniale Intuition, mit der er den schwierigsten Problemen entgegentritt. Sie bewundern die urwüchsige, eiserne Konsequenz seiner logischen Erörterungen, die Zähigkeit und Ausdauer, mit der er an dem einmal für richtig Erkannten trotz allem Widerstand festhält. „Ich kenne kaum einen dickeren Bauernschädel, als den des Professors Ruhland“, sagte seiner Zeit vor Gericht humorvoll Freiherr von Wangenheim, und wie hat er damit Recht! Man fühlt immer: hier setzt sich für die Meinung die ganze Person ein, ein Wort — ein Mann! Ruhland ist der Mann des „Ja — also“! Dabei ist er stets bereit gewesen, seine eigensten Interessen, seine Existenz in die Schanze zu schlagen, immer selbstlos nur eins im Auge behaltend —: die Sache. —


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