Impressum Links          
Inhalt Band 3
          Vorheriger Abschnitt Nächster Abschnitt          


Buchseite 1 Dritter Teil.

Krankheitslehre des sozialen
Volkskörpers.


Buchseite 2 ist leer. Buchseite 3 A.

Die pathologische Entwicklung im Leben
der geschichtlichen Kulturvölker.



Vorbemerkung. Im ersten Bande dieses Werkes, und zwar speziell auf Seite 15 bis 42 und dann auf Seite 148 bis 160 sind die Gründe genannt, welche mich bestimmen, an die Nationalökonomie oder politische Oekonomie oder Volkswirtschaftslehre als „Wissenschaft“ folgende drei Anforderungen zu stellen:

1. Diese Wissenschaft hat vor allem dem praktischen Bedürfnis des ökonomischen Volkslebens zu dienen, indem sie mit der Fackel der Erkenntnis der politischen Praxis voranleuchtet

2. auch das heute so nötige neue System der politischen Oekonomie aus der Summe der ökonomischen Konsequenzen unserer Zeitverhältnisse abzuleiten und

3. weil die neuzeitliche Entwicklung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse das Leben unseres Volkes immer ernster bedroht und weil das wissenschaftliche Reformprogramm unter Ausscheidung der „gesunden“ und „kranken“ Entwicklungstendenzen der Gegenwart abgeleitet sein will — neben der genauen Kenntnis der heutigen wirtschaftlichen Verhältnisse das Studium an den Völkerleichen, welche auf dem Seziertisch der Geschichte liegen, als weitaus wichtigste Unterlage zur wissenschaftlichen Förderung unserer ökonomischen Erkenntnis zu benutzen.

Mit diesen Sätzen wird die Nationalökonomie aus einer „Lehre von den volkswirtschaftlichen Erscheinungen“ — wie bisher — zu einer „Lehre vom gesunden und kranken Volkskörper“ und die sogenannte „spezielle oder praktische VolkswirtBuchseite 4schaftlehre“ wird folgerichtig aus dem „Inbegriff jener Massnahmen, welche die Regierung zur Förderung der Volkswirtschaft ergreift“ — wie bisher — eine „Krankheitslehre des sozialen Volkskörpers“, was im Titel dieses Bandes schon zum Ausdruck gebracht wurde.

Auch dogmengeschichtlich erscheint diese veränderte Auffassung der Nationalökonomie durchaus gerechtfertigt. All unsere grossen durchgreifenden neuen Systeme der politischen Oekonomie waren von der ausgesprochenen Absicht getragen, die ökonomischen Misstände ihrer Zeit zu beseitigen, wie im ersten Bande dieses Werkes eingehend nachgewiesen wurde. Es sind immer und zu allen Zeiten die kleinen Geister, die Materialsammler, die Kleinigkeitskrämer gewesen, welche nur über „kleine Mittel“ verfügten und behaupteten, die jeweils herrschenden ökonomischen Misstände nicht „heilen“, sondern nur „lindern“ zu können. Wie die Medizin als „Heilkunde für den kranken Menschen“ mit jedem weiteren wissenschaftlichen Fortschritt gelernt hat, früher unheilbare Erkrankungen zu „heilen“ und nicht bloss zu „lindern“, so wächst auch in der Volkswirtschaftslehre als „Heilkunde des kranken Volkskörpers“ die Heilkunst mit dem Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis. Wenn also gewisse Nationalökonomen immer noch betonen zu müssen glauben, dass sie eine völlige Heilung unserer volkswirtschaftlichen Misstände als „utopisch“ bezeichnen, so beweist diese Behauptung nur die wissenschaftliche Rückständigkeit der volkswirtschaftlichen Einsicht ihrer Vertreter.

Die heute herrschende Schule der Nationalökonomie gefällt sich zwar unter der Führung von Gustav Schmoller in der Erzeugung einer gewaltigen Masse von historischen Monographien, welche als Leistungen der „reinen“, „voraussetzungslosen“ Wissenschaft, ohne Beziehung zu irgend einem praktisch-politischen Zwecke geschrieben sind. Schon im ersten Bande dieses Werkes wurde aber darauf hingewiesen, dass diese Autoren die doch beachtenswerte Tatsache übersehen, dass ein „Haufen Baumaterialien“ noch „kein Haus“ ist, in dem Menschen wohnen können. Inzwischen hat kein geringerer als Friedrich Paulsen auf die „Gefahren des Historismus“ an den deutschen Universitäten hingewiesen. Paulsen verlangt von denjenigen, „welche als Lehrer und Leiter geisteswissenschaftlicher Studien wirken, dass sie für ihre Person von dem Trieb zum Wesentlichen, Wichtigen und Lebendigen Buchseite 5 durchdrungen sind. Nur ein universalhistorischer, ein philosophischer, ein von Ideen befruchteter Geist, ein Geist, der auch der Gegenwart etwas zu sagen hat, der zur Zukunft drängt, macht das historische Studium lebendig, an welchem Punkte er es auch angreift.“

Diese nur zu sehr berechtigte Mahnung Paulsens wird bestätigt durch eine eigenartige internationale Literatur aus neuester Zeit, welche die Entwicklungsgeschichte der Völker fragt: was die Politik der Gegenwart im Interesse einer besseren Zukunft zu tun und zu lassen habe? So sprach Professor Fahlbeck (Lund) auf der X. Versammlung des internationalen statistischen Instituts in London (1905) über den „Niedergang und Untergang der Völker“ und zeigte an der Hand umfassender statistischer Materialien, dass die heute höchst entwickelten Kulturvölker ihre physische Lebenskraft zu verlieren scheinen. Zu nicht minder pessimistischem Urteile kommt der Amerikaner Brooks Adams dessen Buch „Das Gesetz der Zivilisation und des Verfalles“ inzwischen in deutscher und französischer Uebersetzung erschienen ist und dem der derzeitige Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika Theodore Roosevelt eine ebenso eingehende wie interessante Besprechung gewidmet hat. In der bekannten englischen Zeitschrift „The Nineteenth Century“ veröffentlichte Ellis Barker, unter Benutzung von Studien über die „Nemesis der Völker“ eine Abhandlung über die „Zukunft von Grossbritannien“ mit einem recht einschneidenden agrarischen Reformprogramm. Etwa gleichzeitig wurde in den preussischen Jahrbüchern das zweibändige Werk von Charles Sarolea „Essais de Literature et de Politique“ mit viel Wohlwollen besprochen. Schliesslich ist diese Methode ja schon von Machiavelli und sogar schon von Aristoteles angewendet worden. Der 2. Band dieses Werkes und die hier folgenden Ausführungen befinden sich also in guter Gesellschaft.

Bedarf die Hinneigung zur naturwissenschaftlichen Methode hier noch einer besonderen Begründung? — Naturwissenschaftliche und speziell medizinische Begriffe sind in der nationalökonomischen Literatur mehr und mehr eingebürgert, seitdem der Leibchirurg Ludwigs XV. Francois Quesnay uns das System des Physiokratismus geschenkt hat. Dann wussten St. Simon und Aug. Comte ihre Folgerungen aus der Auffassung der Gesellschaft als „Organismus“ zu ziehen und die Buchseite 6Sociologie“ zu begründen, welche Herbert Spencer mit biologischer Auffassung als eine „Lehre vom Leben“ zur Darstellung brachte. Der hervorragende Berliner Anatom Oskar Hertwig konnte 1899 in einer Festrede „Die Lehre vom Organismus und ihre Beziehung zur Sozialwissenschaft“ nachweisen, wie sehr hier die Naturwissenschaften und die Sozialwissenschaften sich gegenseitig zum Danke verpflichtet sind. Und namentlich durch Albert Schäffle’s grosses Werk: „Bau und Leben des sozialen Körpers, enzyklopädischer Entwurf einer realen Anatomie, Physiologie und Psychologie der menschlichen Arbeit mit besonderer Rücksicht auf die Volkswirtschaft als sozialen Stoffwechsel“ (4 Teile, Tübingen 1875—1878, 2. Auflage mit einer gekürzten Darstellung 2 Bände, Tübingen 1896) wurde unsere volkswirtschaftliche Sprache mit naturwissenschaftlichen Begriffen ungemein bereichert. Heute ist die Auffassung des „volkswirtschaftlichen Körpers“ als „Organismus“ — im Gegensatze zu der mehr mechanischen Auffassung der Freihändler — fast allgemein eingebürgert. Der ganz geläufige Begriff „Krisis“ ruft medizinische Erinnerungen wach. In dem soeben erschienenen XVII. Hefte der „Arbeiterversicherung im Auslande“ hat der kaiserliche Geheimrat Dr. Zacher auf Seite 36 „die Therapie“ und „die Prophylaxis“ der deutschen Arbeiterversicherung behandelt. Liegt es da, bei dem lebhaften politischen Reformbedürfnis unserer Zeit, nicht nahe, von der sozialen Anatomie, Physiologie und Psychologie Schäffle’s den Schritt zur „sozialen Pathologie und Nosologie“ zu wagen?

Jedenfalls kann die Geschichte der Medizin, wie sie aus den Werken von Prof. Pagel: „Zur Einführung in die Geschichte der Medizin“ (1898), „Grundriss zu einem System der medizinischen Kulturgeschichte“ (1905) Neuburger und Pagel „Handbuch der Geschichte der Medizin“ (1875—1896) uns entgegentritt, zu diesem Fortschritt in der Auffassung der Volkswirtschaftslehre nur ermutigen. Der bahnbrechende Einfluss, den Virchow auf die moderne medizinische Wissenschaft ausgeübt hat, liegt nach diesen Ausführungen hauptsächlich darin begründet, dass er an Stelle der überwiegenden Anatomie und Physiologie die Pathologie als Physiologie der kranken Menschen auf dem festen Unterbau der pathologischen Anatomie begründet hat. Auch Virchow ging dabei von dem „praktischen Bedürfnis des Buchseite 7 Lebens“ aus. Die Heilkunde ist nach seiner Auffassung „keine Wissenschaft, die man einzig um ihrer selbst willen pflegen darf“. Für sie gilt das Wort: scientia est potentia. „Sie darf nicht auf Wolken thronen, sondern muss auf festen Beinen unter dem Volk wandern und sorgen, ihm Leben und Gesundheit zu schirmen“.

Genau der gleiche Umschwung ist es, den wir heute in der Nationalökonomie als Wissenschaft benötigen. Auch diese Wissenschaft ist nicht dazu da, um nur für sich selbst auf Bibliothekswolken zu thronen; sie soll vielmehr auf festen Beinen unter dem Volke wandern und sorgen, dass die Gesundheit unseres volkswirtschaftlichen Körpers wieder gewonnen und erhalten werde. Und das, was — wissenschaftlich gesprochen — hierzu vor allem erforderlich ist, umschliesst die Ergänzung unserer heute ganz überwiegend herrschenden „sozialen Anatomie, Physiologie und Psychologie“ durch eine „soziale Pathologie“ als „Physiologie des kranken Volkskörpers“. Zu diesem Zwecke liefert uns die pathologische Anatomie der geschichtlichen Kulturvölker die grundlegenden Erfahrungssätze, denen sich die Beurteilung der pathologischen Symptome im Völkerleben der Gegenwart anreiht, um mit der Therapie als wissenschaftliches Programm für die wirtschaftspolitische Praxis zu schliessen.

Das ist denn auch die naheliegende und naturgemässe Disposition für die nachfolgenden Ausführungen.

Heute erblickt eine stetig wachsende Partei, die Sozialdemokratie, in jenem Prozesse, der entwickelungsgeschichtlich als „Todesstunde des Staates und der Volkswirtschaft“ bezeichnet werden muss, den günstigsten Zeitpunkt, um eine vollständige Regeneration unserer volkswirtschaftlichen Verhältnisse einsetzen zu lassen. Was wir Sozialpolitik nennen, bemüht sich gewisse Krankheitssymptome einigermassen erträglich zu machen, ohne auch nur im Entferntesten die eigentliche Krankheitsursache anzutasten. Der fortschreitenden Zersetzung der noch gesunden Zellen (Mittelstand) steht fast die ganze Wissenschaft teilnahmslos gegenüber. Die weit grössere Energie unserer Buchseite 8 staatlichen Massnahmen sucht offensichtlich weitere Wucherungen der Krankheitsursache, des „Kapitalismus“ nämlich, zu begünstigen. Und wenn die agrarisch–konservativen Kreise bemüht sind, die krankhafte Entwicklung im Interesse der noch gesunden Volksteile wenigstens aufzuhalten, dann nennen das die Vertreter des ökonomischen Liberalismus „reaktionär“. Es besteht also doch wohl ein lebhaftes Bedürfnis, endlich die Begriffe „gesund“ und „krank“ in unsere Volkswirtschaftslehre einzuführen und in konsequenter Weise zu Ende zu denken. Der Wunsch von Riesser (Entwicklungsgeschichte der deutschen Grossbanken 2. Aufl., S. 38, Not. 3) „hinter einem Leichenwagen weder zu philosophieren noch Gesetze machen zu wollen“ und die Wirkungen der Börsenkrisen auf den nationalen Wohlstand nicht zum Ausgangspunkte reformatorischer Aktionen zu wählen, kann nur von jenen Nationalökonomen erfüllt werden, welche sich mit der zweifelhaften Aufgabe begnügen, „Lobredner ihrer Zeit“ zu sein. Der Sozialpolitiker, welcher als Arzt den erkrankten volkswirtschaftlichen Körper zu heilen hat, würde sich der schwersten Pflichtverletzung schuldig machen, wenn er nach dem Wunsche des jetzigen Professor Riesser die schwersten und für die Erhaltung des Lebens bedenklichtsen Symptome verschweigen oder übersehen wollte.

*      *      *
(Vergl. Band I, Seite 209—248.)

Das israelitische Volk besiedelte Kanaan als Bauernvolk im Familien- und Stämmeverband bei Naturalwirtschaft. Der Küstenstrich mit den Hafenplätzen blieb zunächst in den Händen der Phönizier und Philister, die Städte im Lande in den Händen der Kanaaniter. Die naturalwirtschaftliche Ordnung gewährte dem Volke eine gewisse Wohlhabenheit, trotz häufiger kriegerischer Bedrängnis durch räuberische Nachbarn. Eben diese Bedrängnis zeitigte die Einführung des Königtums. Das siegreiche Königtum ging dann aus der Verteidigungspolitik über zur Eroberungspolitik. Die Kriegsbeute mehrte den Reichtum des Volkes an Gold und Silber. Die Siege führten zu einer Verschmelzung mit dem Händlervolke der Kanaaniter, zur Unterwerfung der Philister und zu einem Freundschaftsbündnis mit den Phöniziern in Aegypten. Die Naturalwirtschaft des Volkes wurde durch die Geldwirtschaft abgelöst. Neben den ländlichen Verhältnissen Buchseite 10 machten sich die Städte und insbesondere der Einfluss der Hauptstadt, wo der König mit seinen Schätzen wohnte, geltend. Zu den Bauern gesellte sich der Händler und Gewerbetreibende. Dem Reichtum des Königs an Edelmetallen entsprach sein Reichtum an Land. Die vielfach ausländischen Kapitalisten und Händler wussten das Luxusbedürfnis des Königs zu wecken und für ihre Zwecke dienstbar zu machen. Der Bezug von ausländischen Baumaterialien, ausländischen Bauleuten und Gewerbetreibenden für die Prachtbauten des Königs wurde durch die Ausfuhr entsprechender Mengen von Brotgetreide bezahlt. Das Getreide verwandelte sich in einen internationalen Handelsartikel. Der Geldhunger des Volkes brachte auch die Reserven an Brotgetreide für Notjahre in den Handel. Das nächste ungünstige Erntejahr stürzte das Volk in eine Hungersnot mitten im Frieden. Die Not des Volkes schuf die Voraussetzung, mit Hilfe entsprechender Getreidepreissteigerungen die Verschuldung des Volkes rasch wachsen zu lassen, welcher die rücksichtslose Ausbeutung der Bevölkerung mit Hilfe des furchtbaren Kreditrechtes folgte. Die eingeführte Geldwirtschaft war zur Kapitalistenwirtschaft geworden, und zeigte die erste Stufe dieser Entwicklung in der Form des Handels- und Leihkapitals.

Der König hatte anscheinend wenig Fühlung mit dem Volke. Jedenfalls kümmerten ihn die sich jetzt vollziehenden bedenklichen sozialen Vermögensverschiebungen wenig. Auch des Königs Aufmerksamkeit war ganz in geldwirtschaftlichen und kapitalistischen Anschauungen aufgegangen. Der Kapitalismus sass auf dem Fürstenthrone. So wurde der König selbst zum Händler. Durch seine persönlichen Beziehungen zu auswärtigen Königen konnte ein ertragreiches internationales Handelsmonopol gewonnen werden. Besondere Handelsexpeditionen besuchten das Goldland der Buchseite 11 damaligen Zeit. Die Steuerschraube des Staates wurde immer mehr und immer rücksichtsloser angezogen. Der Getreideexport erhielt eine staatliche Organisation. Eine grosse Zahl der Bevölkerung wurde kurzer Hand in Arbeitersklaven verwandelt. Der selbständige Mittelstand ging rasch zurück. Zur Blüte kam, und zwar namentlich in der Hauptstadt, das Luxus- und Baugewerbe, das Geschäft der Geldwechsler und Geldverleiher und der Grosshändler. In all diesen Erwerbsarten waren Ausländer (Phönizier) in grosser Zahl vertreten. Mit der Steigerung des Luxus und dem Wachsen der Geldgewinne erhöhten sich auch die Preise der Waren und der Löhne. An Stelle der Silberwährung trat die Goldwährung. Aber die Masse des Volkes, und namentlich die der Bauern, war verarmt. Die gesunde naturgemässe Reaktion auf all diese Misstände, der israelitische Bauernaufstand, konnte nicht ausbleiben. Als der neue König die grossen Lasten, welche auf den Schultern der bäuerlichen Bevölkerung ruhten, nicht nach der Gerechtigkeit mildern wollte, kam es zur Spaltung des Reiches.

Nach dieser Schwächung der heimischen Kraft brach die kapitalistische Herrlichkeit im Auslande rasch zusammen. Die zinsbar gewesenen fremden Völkerschaften machten sich frei, ihre Tributleistungen hörten auf. Die ausländische Goldquelle versiegte. Der überseeische Handel kam ins Stocken. Das internationale Handelsmonopol wurde wertlos. Bald unternahmen die Nachbarn wieder gelegentliche Raubzüge ins Land, in dem der Bruderkrieg nur zu häufig wütete. Eine Reihe von Hungersnöten steigerte die Armut der Volksmassen noch mehr. Die „Geldfürsten von Juda und Israel regierten das Land und der König hatte wenig mehr zu sagen.“ Ueberall dehnte sich der Latifundienbesitz der wenigen Reichen, Genussucht und Habgier kannten keine Grenzen. Richter und Priester waren bestechlich Buchseite 12 geworden. Schwer lastete die Armut auf den Volksmassen. Alle Mahnrufe der Sozialreformer (Propheten) verhallten ungehört. Die Flucht der Bevölkerung aus der Heimat wurde immer grösser. Kaum 250 Jahre nach dem äusserlich glänzenden Höhepunkt der Entwicklung unter Salomo endet das Reich Juda durch die babylonische Erorberung, welche das Volk in Gefangenschaft fortführt. Das Reich Israel war schon vorher der assyrischen Eroberung völlig erlegen.

Nach 60-jähriger Gefangenschaft wurde den Juden die Rückkehr in ihre Heimat freigestellt, unter Oberhoheit der Perser, dann unter Alexander dem Grossen, später unter Aegypten, nachher unter Syrien, zuletzt unter Rom. Mit dieser Oberhoheit war die Verpachtung der Steuern und Zölle an Unternehmer verbunden und so dauernd eine Hochburg der kapitalistischen Ausbeutung gesichert. Damit blieb auch der Ausfuhrhandel in landwirtschaftlichen Produkten. Binnen kurzer Zeit brachten Missernten die alten Uebelstände der Ueberschuldung und Auswucherung des Volkes durch die Kapitalisten wieder. Ein einflussreicher Sozialreformer (Prophet) stellte die früheren Besitzverhältnisse wieder her und schüchterte die Wucherer ein. So war kaum 100 Jahre nach der Rückkehr aus dem Exil eine allgemeine Schuldzins- und Knechtschaftsbefreiung nötig geworden. Dann verbündeten sich die Wucherer mit der inzwischen syrischen Oberherrschaft. Das verlieh dem Aufstand der Unterdrückten den Charakter einer nationalen Erhebung (Makkabäer), die siegreich war, mit der Fremdherrschaft auch die Kapitalistenherrschaft beseitigte und den Mittelstand allgemein wieder zur Einführung brachte.

Bald folgte die Oberherrschaft der Römer und damit von neuem die Herrschaft der kapitalistischen Wucherer jeder Art. Schwere Hungersnöte begünstigten die AusBuchseite 13plünderung des Volkes. Jeder Befreiungsversuch aus kapitalistischen Fesseln, welche die Weltmacht Rom hatte schmieden helfen, schien aussichtslos. Deshalb nahm die unausbleibliche anti-kapitalistische Reaktion die Entartungsformen in der Richtung der Krankheitsentwicklung als Kommunismus und Anarchismus an. Fast keiner der Könige starb mehr eines natürlichen Todes. Die Essäer verwarfen Ehe und Eigentum. Die Sikarier durchzogen das Land, überfielen die Reichen und trieben in vertraulicher Verbindung mit dem römischen Landpfleger einen umfangreichen Grundstückshandel mit jenen Besitzungen, welche sie mit dem Dolch in der Hand den Reichsten abgenommen hatten. Die Flucht aus dem Lande verbreitet sich mehr und mehr. Die Zahl der beschäftigungs- und brotlosen Proletarier nahm in der Hauptstadt rasch zu. Die soziale Revolution brach aus. Einer kurzen Befreiung von der Römer- und Kapitalistenherrschaft folgt die Zerstörung von Jerusalem mit der dauernden Vernichtung des jüdischen Staates.

(Vergl. Band I, Seite 274 und 275.)

Die alten Griechenstämme sind bekanntlich von Norden her in den südlichen Vorsprung der Balkanhalbinsel eingewandert und haben dann über die ionischen Inseln hinweg den Weg nach der kleinasiatischen Küste gefunden. Hier lernten sie von den kapitalistisch hoch entwickelten Völkern des Orients die Geldwirtschaft, Handel und Gewerbe mit den kapitalistischen Künsten kennen. Damit begann auch in der griechischen Welt der Uebergang vom Agrarstaat und der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft, zur Kapitalwirtschaft, zum Handels- und Industrie-Staat, worauf etwa 100 Jahre später immer der Untergang des Staates und seiner Kultur folgte. Diese Entwicklung durchliefen zuerst die kleinasiatischen Küstenstaaten. Dann folgten die ionischen Inselstaaten und schliesslich die Staaten auf dem Festlande.

Zu den kleinasiatischen Küstenstaaten gehörte Milet. Etwa um das Jahr 1000 v. Chr. gegründet, war Handel und Gewerbe bald so entwickelt, dass es im VIII. und VII. Jahrhundert v. Chr. hervorragend an der Kolonisationsbewegung sich beteiligte. Das eigene Landgebiet war klein. Bald machte sich die Konkurrenz der griechischen Industriestaaten auf den ionischen Inseln geltend. Dann brachte die politische Einigung der kleinasiatischen Binnenstaaten die Zufuhr der Rohmaterialien ins Stocken. Beides rief Buchseite 15 schwere wirtschaftliche Krisen hervor, welche den blutigen Kampf zwischen den „Reichen“ und den „Armen“ zum Ausbruch brachten. Der Versuch, diese innerpolitischen Spannungen durch einen Krieg gegen äussere Feinde abzulenken, führte rasch zur Zerstörung der Stadt, die seitdem ein ärmliches Fischerdorf geblieben ist.

(Vergl. Band I, Seite 275—276.)

war ein anderer kleinasiatischer Küstenstaat der Griechen, welcher ebenfalls im VII. Jahrhundert v. Chr. einen ausgedehnten kolonialen Besitz im Interesse seines industriellen Exports und seiner Handelstätigkeit beherrschte. Als die Einigungsbestrebungen der kleinasiatischen Binnenstaaten begannen, sah Teos die Absperrung seiner Rohmaterialzufuhren und damit seinen sicheren Untergang kommen. Der weitaus grösste Teil der Bevölkerung entschloss sich deshalb, Teos zu verlassen und in der fruchtbaren Ebene an der Westküste von Thrakien eine neue Heimat mit mehr Bauern zu gründen.

(Vergl. Band I, Seite 276—277.)

war der nördlichste der altgriechischen Stadtstaaten an der kleinasiatischen Küste. Im VII. Jahrhundert v. Chr. gehörte ihm eine Reihe der wertvollsten Kolonien am Mittelländischen Meere. Als jedoch 545 v. Chr. die Perserbewegung siegreich vorgedrungen war, hielt es die Bevölkerung für ratsam, die Heimat für immer zu verlassen und nach Korsika auszuwandern.

(Vergl. Band I, Seite 277—279.)

waren zwei industrielle Handelsstaaten an der Westküste der Insel Euböa. Beide gründeten im VII. Jahrhundert v. Chr. eine Reihe von Kolonien. Sie gehörten mit Korinth auf dem griechischen Festlande im VII. und VI. Jahrhundert v. Chr. zu den berühmtesten Städten der damaligen Handelswelt, in welcher das chalkidische Währungs- und Massystem vielfach Eingang gefunden hatte. Aber beide Staaten lagen in ewiger Fehde um das fruchtbare lelantinische Kornfeld, welche schliesslich dadurch beendet wurde, dass 446 v. Chr. das agrarisch noch stärkere Athen die ganze Insel Euböa mit Chalkis, Eretria und dem lelantinischen Kornfeld eroberte. Damit war jede Gewerbe- und Handelstätigkeit, die ihren Schwerpunkt nicht in der Heimat, sondern im Auslande und in den Kolonien hatte, beendet. Der blutige Kampf der „Armen“ gegen die „Reichen“ begann. Beide Städte sind dann rasch verfallen. Innerhalb der Stadtmauern wurde dann später der grössere Teil des Bodens wieder mit Getreide besät oder als Viehweide verwendet.

(Vergl. Band I, Seite 279—281.)

ein Inselstaat, kaum 20 km südwestlich von der Hafenstadt Athen, mit nur wenig fruchtbarem Lande, erfreute sich eines solchen Ansehens in der griechischen Handelswelt seit dem VI. Jahrhundert, dass das äginatische Münz- und Massystem vielfach freiwillig von anderen Staaten eingeführt wurde. Die industrielle Produktion war hier hoch entwickelt, die Zahl der Gewerbesklaven um 450 v. Chr. grösser als die der freien Bevölkerung. Die Brotversorgung des Volkes lag in der Hand des Getreidehandels. Ursprünglich war auch der Handel von Athen in der Hand der Aeginaten. Als aber das der Fläche nach weit grössere und mit weit mehr Bauern ausgestattete Athen sich auch der kapitalistischen Entwicklung zuzuwenden begann, musste zwischen beiden Konkurrenten der Kampf auf Leben und Tod beginnen. Er wurde, wie immer zwischen Handelsstaaten, mit der grössten Erbitterung geführt. Sobald es Athen gelungen war (480 v. Chr.), über eine mächtigere Flotte als Aegina zu gebieten, war dessen Vernichtung beschlossene Sache. Die Stadt wurde zerstört und die gesamte Einwohnerschaft mit Weib und Kind aus dem Lande verjagt.

(Vergl. Band I, Seite 282—286.)

war auf dem griechischen Festlande am frühesten Handels- und Industriestaat geworden. Schon unter Periander (627—585 v. Chr.) beherrschte es eine Reihe der wichtigsten griechischen Kolonien. Die Geschichte verlegt viele technische Erfindungen nach Korinth. Die Korinther standen an erster Stelle gegen die Seeräuber. Trotz aller Förderung von Handel und Industrie war Periander bemüht, den gewerblichen Mittelstand zu erhalten. Er gestattete deshalb den Kapitalisten nicht, Gewerbesklaven in grösserer Zahl einzuführen. Deshalb hat die Partei der Kapitalisten Periander gewaltsam beseitigt. Das war für die bedeutendste Kolonie der Anlaß zur Verselbständigung und damit kam es zur Ausbildung eines neuen gefährlichen Handelskonkurrenten. Korinth war dann politisch so geschwächt, dass es gezwungen war, die Schutzherrschaft des Agrarstaates Sparta aufzusuchen. Von nun an war die Politik der Korinther bestrebt, aus dem Zusammenbruch ihrer kapitalistischen Konkurrenten möglichst viel zu verdienen. So hat Korinth Athen unterstützt, als es sich darum handelte, Chalkis, Eretria und Aegina zu vernichten. Dadurch ist immer ein entsprechendes Absatzgebiet den Korinthern zugewachsen. Die Rechnung war nur deshalb falsch, weil auf diese Weise auch Athen als Handels- und Industriestaat immer mächtiger geworden ist. So konnte denn eines Tages der Kampf auf Leben und Tod zwischen Korinth Buchseite 21 und Athen nicht mehr ausbleiben (peloponnesischer Krieg), in welchem Athen wiederholt nur deshalb seiner völligen Vernichtung entgangen ist, weil nicht der Handelsstaat Korinth, sondern der Agrarstaat Sparta die Führung der siegenden Partei in Händen hatte. Die Absatzstockungen durch den Krieg haben in Korinth, wo der Mittelstand längst vernichtet war, den blutigen Kampf zwischen den „Armen“ und den „Reichen“ ausbrechen lassen mit umfangreichen Vermögenskonfiskationen und Verbannungen. Die Stadt selbst fristete ihr Leben nur so lange noch weiter, als Agrarstaaten die Oberherrschaft ausübten. Als 146 v. Chr. die römischen Kapitalisten die Herren von Korinth geworden waren, da lautete das Urteil: „Die Stadt ist dem Boden gleich zu machen, ihre Einwohner sind als Sklaven zu verkaufen, ihre Schätze sind nach Rom zu überführen!“

(Vergl. Band I, Seite 286—305.)

Hier gestattet die weit grössere Zahl der uns überlieferten Quellen, die kapitalistische Entwicklung wieder etwas vollständiger zu verfolgen.

Attika war ursprünglich ein Agrarstaat, in welchem Tendenzen zur Ausbildung eines Industrie- und Handelsstaates vorhanden waren. Auch hier sind deshalb frühzeitig die Grossgrundbesitzer kapitalistisch verdorben worden, sodass sie durch Begünstigung des Getreideexportes den Bestand an Brotgetreidereserven verbrauchten, was nach Missernten Hungersnot erzeugte. Diese Not wurde mit Hilfe des furchtbaren Kreditrechts benützt, um die Masse des Volkes in die Fesseln der Schuldknechtschaft zu zwingen. Daraus erwuchsen, als gesunde Reaktion, die attischen Bauernkriege, welche in der solonischen Gesetzgebung ihre vorläufige Beruhigung erhielten. Bei allen Vorzügen dieser Gesetzgebung im Einzelnen, hat sie trotzdem eine reinliche Beseitigung des Kapitalismus nicht gewagt. Die kapitalistische Entwicklung konnte deshalb auch nach Solon sich weiter ausbauen, wenn auch zunächst in einem langsameren Tempo. Die deshalb andauernde Unzufriedenheit des Volkes liess mit Hilfe der Bauernpartei eine Militärmonarchie entstehen. Der jetzt schon beginnende Zerfall der Handels- und Industriestaaten an der kleinasiatischen Küste verführte aber auch die Militärmonarchie, von den so frei werdenden Buchseite 23 Geschäftsgelegenheiten einen Teil für Athen zu gewinnen. Die Monarchie übersah dabei, dass sie mit Ausbreitung der kapitalistischen Erwerbsgelegenheit nicht ihre Freunde, die Bauern, sondern ihre Gegner, die Kapitalisten, stärkte. Bald darauf wurde mit Hilfe von Staatsfeinden durch die Kapitalisten die Militärmonarchie beseitigt. Die sich anschliessenden Volksunruhen führten zur Einführung der demokratischen Verfassung (509 v. Chr.) wobei die Annahme massgebend zu sein schien, dass die Teilnahme des ganzen Volkes an der Regierung und Rechtsprechung am besten die Auffindung des rechten Weges in der Politik sichern müsse. Um bei Besetzung der Aemter persönliche Einflüsse tunlichst zu vermeiden, wurde die Erwählung durch das Loos fast allgemein zur Anwendung gebracht. Aber der gewerbliche Mittelstand war in der Stadt schon derart zersetzt und früher ökonomisch unabhängige Bürger schon in solcher Zahl proletarisiert, dass man für die Dauer ihrer Teilnahme an politischen Aemtern ihren Unterhalt auf Staatskosten vorgesehen hat; eine Einrichtung, aus welcher sich später ein umfassender Staatssozialismus entwickeln sollte. Die Reichen waren mit dieser Verfassung nicht einverstanden. Sie riefen das Ausland zur Hilfe. Das Volk siegte und hat dann die Reichen vielfach hingerichtet und ihren Besitz an arme Bürger verteilt. Die ausländische Teilnahme wurde durch Erobererungen bestraft. Indes zwangen die Ereignisse das attische Volk, die Bahn der kapitalistischen Entwicklung weiter zu betreten.

Das benachbarte Aegina hatte durch seine überlegene Flotte die attische Küste in dieser Zeit verwüstet, ohne ernstlichen Widerstand zu finden. Wollte man eine Wiederholung dieser bösen Erfahrung vermeiden, so musste der Bau einer grossen Flotte energisch in Angriff genommen werden. Weiter glaubten jetzt die kleinasiatischen Griechen vom Perserreiche ein entsprechendes Gebiet für sich abBuchseite 24reissen zu können. An diesem Versuche waren fast alle griechischen Staaten und auch Athen beteiligt. Ganz Griechenland sollte dafür bestraft werden. Um gegen die Macht der Perser zu Wasser und zu Lande anzukämpfen, reichten die in Athen verfügbaren Mannschaften nicht aus. Man entschloss sich deshalb das Land dem Feinde preiszugeben und alle Mittel des Staates in dem Ausbau der Flotte zusammen zu fassen. Das grosse Wagnis glückte. Das im Kern noch gut agrarische Volk schlug mit seinen Verbündeten das Perserheer zu Wasser und zu Lande. Mitten im Siegesjubel und zur Zeit der noch drohenden Gefahr neuer Perserangriffe kam es 477 v. Chr. unter der Führung von Athen zur Gründung des attischen Seebundes. Athen war damit zum Führer der mächtigsten Marine der damaligen Zeit geworden. Es konnte nicht ausbleiben, dass aus diesem attischen Seebund ein attisches Reich wurde. Im Besitz dieser Macht wurde zunächst der böse Nachbar Aegina vernichtet. Wo einzelne Glieder des Bundes ihre Bundespflichten nicht erfüllen wollten, wurde ihr Gebiet erobert. In all diesen Fällen erhielten attische Bauern die besten Ländereien umsonst. Das reizte die Bauern um so mehr zur Auswanderung aus der Heimat nach den Kolonien, je günstiger sie ihren ererbten Grundbesitz als Luxusbesitz an die immer reicher gewordenen städtischen Bürger verkaufen konnten. So wurden auch in Athen aus den bäuerlichen Besitzungen grosskapitalistische Latifundien. Der heimische Getreidebau ging verloren. Die Brotversorgung des Volkes blieb auf die Zufuhr durch den Handel angewiesen. Soweit die Bauern nicht in den Kolonien Unterkunft finden konnten, widmeten sie sich dem Söldnerhandwerk. Die selbständigen Gewerbetreibenden wurden vernichtet durch die wachsende Einführung von Gewerbesklaven durch kapitalistische Unternehmer. Der Periode des Handels- und Leihkapitals zur Zeit Solons folgte jetzt die Periode des Buchseite 25 Industriekapitals. Der Mittelstand in Athen ist so in Stadt und Land verschwunden. Zu einer politischen Beunruhigung führte das jetzt trotzdem nicht. Denn die Bürger Athens waren ja Regenten des attischen Reichsbundes geworden, dem genügende Geldmittel zur Verfügung standen, um die Regenten angemessen zu besolden. Die in Athen verbliebenen proletarisierten Mittelstandmassen waren durch eine umfassende, staatssozialistische Einrichtung von Tag zu Tag versorgt. Das reiche Athen wurde mit dem V. Jahrhundert v. Chr. Mittelpunkt der griechischen Bankwelt. Der Periode des Industriekapitals hat sich die dritte Periode des Bank- und Börsenkapitals angeschlossen. Goldmünzen wurden in immer grösseren Mengen in Athen geprägt. Die Zahl der Sklaven erreichte die der freien Bevölkerung. In Kunst und Wissenschaft wurde ganz Hervorragendes geleistet. Die ganze Welt schien Athen zu bewundern. Und doch waren seine volkswirtschaftlichen Verhältnisse durch und durch krank und ganz unhaltbar geworden.

Die Masse des Volkes lebte nicht mehr von dem Ertrage der eigenen in der Heimat gesicherten Arbeitsgelegenheit, sondern aus dem Staatssäckel und von den Getreidefeldern am Pontus. Wurde der Staatssäckel leer und stockten die Sold- und Pensionszahlungen, so musste es zur sozialen Revolution kommen. Kamen die Getreidezufuhren aus dem Pontus ins Stocken, dann war Hungersnot im Lande. Traf aber der leere Staatssäckel mit der Hungersnot zusammen, dann war Athen seinen Feinden auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Und so kam es.

Das Streben, immer neue Absatzgebiete für seine Industrie zu gewinnen und die immer rücksichtslosere Behandlung der Bundesgenossen machten Athen bald überall verhasst. In seiner verblendeten Raubpolitik hat es selbst den 27jährigen Entscheidungskampf mit Korinth Buchseite 26 um die Handelsherrschaft über die griechische Welt eingeleitet. Die endlosen kriegerischen Wirren riefen Stockungen im Handel und starke Steigerungen der Preise hervor. Die Pest (439 v. Chr.) vermehrte weiter die politischen Schwierigkeiten. Bald konnten alle Finanzkünste der Welt die Mittel für die Staatskasse nicht mehr aufbringen, um die staatssozialistischen Einrichtungen für die verarmten Bürger vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Die Vereinigung der Feinde sperrte die Getreidezufuhren. Athen musste sich bedingungslos ergeben (404 v. Chr.). Jetzt schossen die sozialistischen und kommunistischen Reformprojekte wie Pilze aus der Erde. Der blutige unversöhnliche Kampf der „Armen“ gegen die „Reichen“ dauerte weiter und wurde durch die Abhängigkeit der Volksernährung von der ausländischen Getreidezufuhr wesentlich verschärft. Bald zeugten nur noch die Ruinen von der einstigen Grösse des Staates und seiner Kultur.

(Vergl. Band I, Seite 305—310.)

hatte etwa um die Mitte des VIII. Jahrhunderts v. Chr. seinen späteren Wohnsitz gewonnen. Seine schon damals gegebene Verfassung war eine ausgeprägt agrarische, auf der Naturalwirtschaft beruhende, die in energischster Weise das Eindringen des Kapitalismus in die Volkswirtschaft zu verhüten bestrebt war. Weil Sparta deshalb die Beschäftigung seiner Bürger mit Industrie und Handel vermieden hat und sich an dem allgemeinen Rennen und Jagen nach neuen Absatzwegen im Welthandel gar nicht beteiligte, waren schon gegen Mitte des VI. Jahrhunderts v. Chr. die meisten Staaten mit Sparta freiwillig verbündet. Die Handels- und Industriestaaten an der kleinasiatischen Küste gingen zu grunde. Ihnen folgten die Handels- und Industriestaaten der ionischen Inseln. Selbst Athen ist den Angriffen seiner Feinde erlegen, der Agrarstaat Sparta blieb im Besitze seiner Macht, die jetzt erst durch das Eindringen des Kapitalismus verloren gehen sollte! Schon während der Perserkriege kam es gelegentlich zu blutigen Unruhen. Die vielen Kriege brachten auch den Spartanern schwere Verluste und zwangen den Staat, eine wachsende Zahl von Nichtbürgern in die Armee einzustellen. Nach den Siegen strömten immer mehr Schätze nach Sparta. Die Bestechlichkeit breitete sich aus. Man begann die Unveräusserlichkeit des spartanischen Grundbesitzes aufzuheben. Rasch zeigten sich dann in der Bevölkerung die beiden Klassen Buchseite 28 der „Reichen“ und der „Armen“. Neue Eroberungsversuche gegen ein noch agrarisches Volk brachten eine schwere Niederlage. Die Verschuldung des Volkes wuchs rasch. Die gute Absicht einer durchgreifenden Reform hat an neue Eroberungspläne wieder alles verloren. Von da ab wütete der Bürgerkrieg bis zum Einzug der Römerherrschaft in Griechenland (146 v. Chr.).

(Vergl. Band I, Seite 319—396.)

beginnt seine Geschichte mit einem Bauernvolk, dessen landwirtschaftlicher Grundbesitz unveräusserlich war. Die Brotgetreidepolitik der ältesten Zeit war mit der Wanderungspolitik in der Weise verknüpft, dass nach Missernten sich die Jungmannschaft auf anderen Fluren eine neue Heimat gründete. Die anfangs wahrscheinlich dauernde kriegerische Bedrängnis hat auch in Rom das Institut des Königtums geschaffen. Die Verfassung war eine Art Feudalordnung. Doch bestand die grosse Mehrheit des Volkes wahrscheinlich aus freien Bauern. Die Feudalherren aber wohnten nicht zerstreut im Lande, sondern in der Hauptstadt, was deshalb möglich war, weil das ganze ursprüngliche Landgebiet noch etwas kleiner als das heutige Fürstentum Waldeck gewesen ist. Im VIII. Jahrhundert v. Chr. wird dieses Volk geschichtlich bekannt. Noch unter der sagenhaften Königsherrschaft kam es zur Einführung einer modernen Staatsbürgerverfassung mit Volksabstimmung, allgemeiner Wehrpflicht, Freiheit der Verschuldung und Veräusserung der Grundstücke bei Kupferwährung und Naturalsteuerverfassung.

Das anfangs gewiss häufiger zur Verteidigung gezwungene Volk ist mit der Zeit ein Eroberungsvolk geworden, welcher Umwandlung kapitalistische Entwicklungen deutlich parallel gehen. Zwar wurde nach Erbauung der Stadt die Getreidepolitik eine Vorratspolitik. Buchseite 30 Aber gleichzeitig hat Rom auch nach guten Ernten Getreide exportiert, um das so sehr begehrte Geld zu erhalten. Missernten und kriegerische Zeiten brachten Notjahre, in denen die Auswucherung des Volkes leichtes Spiel hatte und das furchtbare Kreditrecht die freien Bürger rasch in Schuldsklaven verwandelte. Alle Bürger, auch die Schuldsklaven gewordenen, standen beim Kriegsaufgebot in Reih und Glied. So bot das versammelte Kriegsvolk Gelegenheit zu einer sehr wirksamen umfassenden bäuerlichen Oppositionsbewegung gegen den einbrechenden Kapitalismus in der Form des Handels- und Leihkapitals. Das war die Zeit der römischen Bauernkriege mit ihrer sehr reichhaltigen antikapitalistischen Mittelstandsgesetzgebung. Es entstanden Amt und Würde der Volkstribunen, der Volksädilen, das XII. Tafelgesetz, das gesetzliche Zinsmaximum, die Beseitigung der Schuldknechtschaft, das Verbot des Zinsnehmens, die Volksgerichte über Leib und Leben, die Souveränität der römischen Volksversammlung (287 v. Chr.). Der römische Mittelstand schien der Herr des römischen Staates geworden zu sein. Dennoch waren gerade jetzt seine Tage gezählt.

Die Siege der Römer über ihre Feinde gliederten der altrömischen Feldmark zunächst in Italien immer wieder neue Landgebiete an, welche als Kolonien bezeichnet und behandelt wurden. Von 232 v. Chr. ab wurden mit einer gewissen Liberalität zu den neu erworbenen Gebieten Aecker an römische Bürger verteilt. Die römischen Bauern kamen dadurch in die anscheinend günstige Lage, ihren ererbten Besitz vor den Mauern der Hauptstadt gut verkaufen zu können, um in den Kolonien geschenkte Staatsländereien künftig zu bewirtschaften. So ist die römische Bauernschaft in immer grössere Entfernungen von Rom abgerückt und damit tatsächlich aus der allmächtigen römischen Volksversammlung ausgeschieden. Da gleichBuchseite 31zeitig die römischen Kapitalisten durch die Einführung griechischer Gewerbesklaven, also durch Einleitung der Epoche des Industriekapitals, den gewerblichen Mittelstand in Rom rasch proletarisierten, war bald tatsächlich die römische Volksversammlung den römischen Kapitalisten ausgeliefert.

Noch konnten die römischen Bauern gegen den furchtbaren Hannibal jährlich 70'000 Mann ins Feld stellen und den Sieg über Karthago, über Makedonien und Syrien erringen. 168 v. Chr. war die Eroberung der Mittelmeerländer in der Hauptsache vollendet. Ungeheure Kriegsbeuten und Kriegsentschädigungen wanderten nach Rom, das rasch zur Silberwährung (269 v. Chr.) und dann zur Goldwährung (207 v. Chr.) überging. Ueberall wurden auf Staatskosten grosse Bauten aufgeführt. Für jedermann bot sich Arbeitsgelegenheit genug. Die Warenpreise und Löhne stiegen. Noch mehr wuchs der Reichtum und die Habgier der römischen Kapitalisten. Auf den berühmten Sklavenmärkten der Insel Delos wurden morgens bis zu 10'000 Sklaven aufgetrieben, die bis zum Abend leicht verkauft wurden. Namentlich das Brotgetreide wurde mehr und mehr Spekulationsobjekt der Händler und Bankiers. Die eroberten Provinzen waren der schamlosesten Ausplünderung preisgegeben. Die Statthalter, die Steuerpächter, die römischen Kaufleute und Geldverleiher wetteiferten mit einander in raubtierartiger Gewinnsucht. Wo die ungeheuerlichsten Wuchergewinne in den Provinzen oder befreundeten Staaten nicht gezahlt werden konnten, da mussten die römischen Heere für die privilegierten Räuber die ausstehenden Forderungen eintreiben. Wo deshalb die furchtbar gequälten Völker zu einer Empörung sich aufrafften, da forderte es die „Ehre des römischen Staates“, mit Waffengewalt den Aufstand im Blute zu ersticken und zur Deckung der Kriegskosten das letzte wegzuführen, was zu fassen war.

Buchseite 32 Wie sah es inzwischen mit den römischen Bauern aus? Nur 35 Jahre nach der Eroberung der Mittelmeerländer durch die Bauernheere konstatierte der Beginn der Gracchischen Unruhen (133—121 v. Chr.), dass der römische Bauernstand aus Italien verschwunden war. Mit ihm war auch der Getreidebau verschwunden. Die Kornkammer Roms wanderte zunächst nach Sizilien, dann nach Spanien und Afrika, später nach Aegypten und dem Pontus. In Italien waren an Stelle der bäuerlichen Besitzungen gewaltige Latifundien der Kapitalisten mit grossen Viehherden und wenigen fremdländischen Sklaven als Viehhirten getreten. Die Masse der römischen Bürger war verarmt, etwa 2000 hatten alles „gewonnen“. Die Beschlüsse der Volksversammlung in Rom wurden durch ein grossartiges System von Bestechungen nach den Interessen der ehrgeizigen Kapitalisten geleitet, deren Geldbedarf für Wahlzwecke sichtlich den Zinsfuss der wohlorganisierten Börse bestimmte. Rom war inzwischen in das Entwicklungsstadium des Bank- und Börsenkapitals eingetreten. Die ganze Welt schien nur dazu da, sich von den römischen Kapitalisten ausbeuten zu lassen.

Doch da begann auch schon unter den Räubern der Kampf um die Beute. Im Jahre 101 v. Chr. wurde das römische Heer, das früher aus den Vertretern des Mittelstandes sich zusammensetzte, von römischen Proletariern und fremden Söldnern gebildet, die ihrem Führer um so mehr ergeben waren, je grossartiger seine Beutezüge angelegt waren. Die römischen Bürgerkriege begannen und haben ihren naturgemässen Abschluss darin gefunden, dass der kühnste der römischen Kapitalisten das ganze römische Reich für sich eroberte (Cäsar).

Das Programm des neuen Herrn lautete notwendigerweise: Hinrichtung fast aller bisheriger Raubkollegen und Schaffung namentlich eines neuen Bauernstandes vor den Buchseite 33 Toren von Rom auf den Latifundien der geschlachteten Grosskapitalisten. Weil jedoch der Herr des Staates für sich allein das Recht in Anspruch nahm, die Bevölkerung der Welt auszuplündern, traten allgemein besser geordnete Rechtsverhältnisse ein, die sich äusserlich zwar in glänzenden Formen einführten, aber bei dem durchaus kapitalistischen Charakter des Kaisers keine innere Gesundung des Volkskörpers herbeiführen konnten.

Die Neuschaffung eines Bauernstandes nicht nur in der Umgebung von Rom, sondern in ganz Italien, welcher die Brotversorgung des Volkes im ganzen Lande wieder gesichert hätte, unterblieb. Ebenso unterblieb die Neuschaffung eines ausreichenden städtischen Mittelstandes. Wohl aber behielt selbst Cäsar seine 150'000 Almosenempfänger in Rom, deren Zahl unter seinem Nachfolger schon auf 250'000 angewachsen war. Zur persönlichen Sicherheit des Kaisers vor der Rache des hungernden Proletariats schuf man eine grossartige staatssozialistische Getreideversorgung für Roms Proletarier. Dazu kamen die Anforderungen der kaiserlichen Launen. Die Finanznot des Staates wurde nicht mehr beseitigt. Alle Mittel zur Heilung versagten. Schrittweise bildete sich die Volkswirtschaft von der Goldwährung, zur Silber-, zur Kupferwährung und zur Naturalwirtschaft wieder zurück. Die Verstaatlichung der Getreideeinfuhr griff immer weiter um sich und erfasste ein Gewerbe und einen Beruf nach dem anderen als Zwangsberufsgenossenschaft auf staatssozialistischer Grundlage, bis das ganze komplizierte Gebäude des Staatssozialismus fertig war. Neben diesem Staatssozialismus fand der Anarchismus, der sich schon während der Bürgerkriege gezeigt hatte (Catilina), seine Vertreter in den Reihen der römischen Garde, welche den Kaiser ermordeten und den Kaiserthron öffentlich meistbietend verauktionierten. Die römische Bevölkerung, der fast keine Buchseite 34 Freiheit mehr geblieben war, und die nur zu allgemein die Lebensfreudigkeit verloren hatte, ging immer rascher zurück. Schon im Laufe des 2. Jahrhundert n. Chr. waren die römischen Legionen germanisiert. Die immer gefährdete Brotverteilung von Rom führt zur Verlegung der Hauptstadt nach Konstantinopel und dann zur Teilung des Reiches. Schliesslich jagt der germanische Anführer der germanischen Söldner den letzten römischen Kaiser vom Throne, um selbst die römische Krone zu tragen. Die Germanen waren an Stelle der fast ausgestorbenen Römer getreten.

(Vergl. Band II, Seite 3—82).

Das römische Weltreich war gefallen. Das byzantinische Reich und Persien hatten sich gegenseitig genügend geschwächt. Das war die Zeit, in welcher Muhammed eine nationale Bewegung der Araber schuf, welche mit dem arabischen Pferd und dem arabischen Kamel unter Benutzung der Wüsten als Heeresstrassen von Indien bis nach Spanien ein Weltreich in der kurzen Zeit von etwa 100 Jahren zusammen eroberte. Die neue Religion war gewiss nicht ohne einen idealen Kern. Die begeisterte Hingebung der Strenggläubigen bezeugte das zur Genüge. Aber Muhammed machte aus seiner Gemeinde der Gläubigen eine „Geschäftsgemeinde“ mit ungewöhnlich reichen Gewinnaussichten, indem er sie zu einem Eroberungsheer ausbildete mit dem Auftrage, die Ungläubigen zu bekämpfen, bis sie demütig ihnen die Steuer zahlten. Kriegsbeute, wie alle überschüssigen Steuererträge wurden unter die Gläubigen verteilt. Der Bauer und die Bodenkultur sollten in den eroberten Ländern geschont werden. Dem Araber war es verboten, Grundeigentum zu erwerben. Die Gläubigen sollten nur Eroberer, Regenten und Regierungsgehilfen sein, für welche die Besiegten zu erwerben und zu produzieren hatten. Die ganze islamitische Politik war reinste, unverfälschte Kapitalistenpolitik. Sie stellte sich die Frage: Wie können wir die Menschen der Welt am besten für uns arbeiten lassen? Die Antwort lautete: Indem wir die Buchseite 36 Welt erobern und beherrschen. Der einzige durchgehende Entwicklungszug der islamischen Geschichte ist deshalb der Kampf um die Beute. Zu Anfang sehen wir das Volk der Araber als Räuberhorde organisiert, um möglichst viele Länder zu erobern und dauernd auszuplündern. Dann wird dem Volk der Araber das auf diese Weise gewonnene Einkommen entzogen durch den Kalifen. Damit beginnt ein fortgesetzter Kampf um den Kalifenthron zwischen den Nachfolgern der Prophetenfamilie. Die übrigen Araber suchen durch den mehr oder minder gewaltsamen Erwerb von Latifundien und geringere Steuerzahlung sich zu entschädigen. Von Zeit zu Zeit werden auch wieder neue gemeinsame Eroberungskriege gegen benachbarte Staaten organisiert, welche gute Beuteerträge liefern. Die Reaktion gegen diese Verkürzung des Anteils an der Beute nimmt unter den Arabern im Hinblick auf die Bestimmungen ihrer Glaubenslehre den Charakter von Sektenbildungen an, mit teilweise sozialistisch– kommunistischem Programm bis zur umfassenden Organisation eines weit verzweigten mächtigen Anarchistenbundes. Den Arabern als Volk bleibt schliesslich doch nur übrig, sich den verschiedenen Formen des wirtschaftlichen Erwerbes zuzuwenden. Sobald aber Beamter oder Unternehmer einen grösseren Reichtum erworben hatten, gefiel es den Kalifen, sie zu enteignen und ihren Reichtum der Staatskasse zuzuführen. Weil aber damit die Feindschaft zwischen Volk und Kalifen immer grösser wurde, stellte der Fürst der Gläubigen zu seiner persönlichen Sicherheit fremde Soldtruppen ein, die rasch die anarchistische Rolle der römischen Prätorianer spielten und den Kalifen auszurauben begannen, bis schliesslich die selbständig gewordenen Statthalter den Beuteertrag des Staates sich aneigneten. Das damit eingeleitete allgemeine Hazardieren um Königreiche mit fabelhaften Schätzen weckte den Türken- und Mongolensturm, welcher die Herrschaft der Buchseite 37 Araber begraben hat. Durch diese islamische Epoche war die kapitalistische Wirtschaft und das kapitalistische Recht zu einer neuen imposanten Entfaltung gekommen, welche die kapitalistischen Erwerbsformen auf Kirche, Völker und Staaten des christlichen Abendlandes rasch genug übertragen sollte.

(Vergl. Band II, Seite 178—215.)

Bald nach Entstehung des arabischen Weltreiches begannen dauernde Reibungen zwischen dem Islam und dem christlichen Abendlande, und zwar von Spanien angefangen bis nach Jerusalem und Konstantinopel. Seit Beginn des X. Jahrhunderts befand sich das islamische Reich in offensichtlichem Verfall. Die christlichen Waffen drangen in der spanischen Halbinsel, wie im Mittelmeere siegreich gegen die Araber vor. Die Annahme schien nicht unberechtigt, dass die Herrschaft des Islam dem gemeinsamen Ansturm des christlichen Abendlandes nicht mehr gewachsen sei. Die Schätze des Orients mussten auch im Abendlande die Eroberungslust reizen. Die jetzt noch schlechtere Behandlung der christlichen Pilger nach Jerusalem forderte Abhülfe. So begann 1096 die Kreuzzugsbewegung der christlichen Ritterschaft unter Oberleitung der römischen Kirche. Im christlichen Abendlande herrschte damals noch die Verfassung des Lehnsstaates. Der Ritter war verpflichtet, sich und sein Gefolge im Kriege auf eigene Kosten zu verpflegen. Unter dem Drucke dieser Verpflichtung erlahmte die Kreuzzugsfreudigkeit der Ritter sehr rasch. So blieb der Kirche nur übrig, die erforderlichen Gelder zur Fortführung der Kreuzzüge zu beschaffen. Das ist die Quelle der Kreuzzugssteuern geworden. Der Ertrag erreichte im ersten Drittel des XIII. Jahrhunderts etwa 20 Millionen Franken pro Jahr. Für das damalige Abendland eine Buchseite 39 ausserordentlich grosse Summe, die durch Ablasspredigten und Anleihen noch wesentlich erhöht werden konnte. Jedenfalls waren dadurch die Päpste in Rom die reichsten Herren der Christenheit geworden. Die politische Macht der römischen Kirche musste damit ausserordentlich wachsen. Fast alle Könige und Fürsten Europas waren bemüht, von dieser Goldfülle durch des Papstes Gnaden einen Teil zu verdienen oder doch mit dieser überragenden Macht gute Beziehungen zu erhalten. Kann es überraschen, dass daraus die Idee der Universalmonarchie der Päpste geschöpft wurde?

Diese Idee und ihre Politik führte zum Kampfe des Papsttums mit den weltlichen Mächten. Das deshalb noch mehr gewachsene Geldbedürfnis der Kirche liess ein ganzes System indirekter Kirchensteuern aufkommen. Der Reichtum der Kirche minderte den kirchlichen Sinn ihrer Priester. Deshalb entstanden Glaubenstrennungen, deren Anhänger von der Kirche verfolgt wurden. Die Glaubenstrennung von Rom stärkte die Macht der weltlichen Staaten, welche der Kirche nach und nach ihre Güter und ihr Einkommen entzogen haben. Als trotz wiederholter Einigungs- und Reformversuche die Glaubenstrennungen immer neue Gebiete erfassten und die Macht der weltlichen Staaten immer grösser wurde, verzichtete die Kirche freiwillig nach den Beschlüssen des Konzils von Trient (1545—1563), auf jene Einkünfte, welche den Kapitalismus auf päpstlichem Throne ausmachten. Von da ab hat die Glaubenseinigung wieder wesentlich zugenommen und der kirchliche Sinn sich sichtlich gebessert.

(Vergl. Band II, Seite 370—371.)

Die Hauptkanäle, durch welche die kapitalistische Erwerbsart des islamischen Orients nach dem christlichen Abendlande schon vor den Kreuzzügen Eingang gefunden, um sich von hier aus immer weiter auszubreiten, waren die Verkehrsstrassen des Handels zwischen dem Morgen- und Abendlande. Die ersten Ablagerungen dieser Erwerbsart fanden in den alten Handelsstätten der christlichen Mittelmeerküste statt. Amalfi war eine der ältesten Stadtstaaten dieser Art. Schon vor den Kreuzzügen besass Amalfi eine Reihe von Handelsniederlassungen. Seine Beteiligung am ersten Kreuzzuge brachte weitere Handelsvorteile ein. 1135—1137 wurde die zwischen Felsen eingezwängte Stadt wiederholt von dem stärkeren Konkurrenzstaat Pisa überfallen und gänzlich vernichtet. Und da ein grösserer Landbesitz mit Bauern zu diesem Staate nicht gehörte, war damit seine Geschichte beendet.

(Vergl. Band II, Seite 372—375.)

hatte sich zu Beginn des XII. Jahrhunderts Sardinien, Korsika und Elba gemeinsam mit Genua im Kampfe gegen die Araber erobert. Weitere wichtige koloniale Besitzungen wurden bei der Teilnahme an den Kreuzzügen gewonnen. Nach der Vernichtung Amalfis hatte der Handel Italiens mit dem Orient in Pisa seinen Hauptsitz. Das erweckte den Konkurrenzneid von Genua und Venedig, sodass Pisa sich bald mit dem einen, bald mit dem anderen Konkurrenten zu bedenklichen Bündnissen gezwungen sah. 1268 wurde die Flotte der Pisaner durch Genua gänzlich vernichtet, die Kolonien vom Sieger eingezogen. Blutige Bürgerkriege begleiteten dann den Zusammenbruch dieses Gemeinwesens. Damit war auch dieser Handelsstaat ohne Bauern erledigt.

(Vergl. Band II, Seite 375—381.)

besass in seiner Umgebung nur einen schmalen Landstreifen mit wenigen Bauern. Seine Politiker waren der Meinung, dass nur die Förderung von Handel und Industrie durch koloniale Besitzungen in der Ferne als Stützpunkte eines wachsenden Weltverkehrs nationale Vorteile bringe. Seine wertvollsten Kolonien wusste Genua während der Kreuzzüge zu erwerben. Als es aber Venedig glückte, den vierten Kreuzzug (1202 —1204) ganz in die Bahnen seiner Geschäftsinteressen abzulenken und die wichtigsten Handelsprivilegien von dem mit seiner Hülfe entstandenen lateinischen Kaiserreich Byzanz zu erhalten, begannen in Genua politisch unruhige Zeiten. Die wachsende Herrschaft Venedigs im damaligen Welthandelgetriebe bedeutete naturgemäss das nahende Ende des Handelsstaates Genua. Da gelang es den Zünften, die Regierungsgewalt den „gesättigten Bürgern“ zu entreissen. Nun wurde alles daran gesetzt, das Venedig so eng befreundete lateinische Kaiserreich in Byzanz durch Wiederherstellung des griechischen Kaiserreichs zu beseitigen um von dem neuen Kaiser die gleichen Handelsbevorzugungen zu erlangen, die Venedig von seinem Vorgänger erhalten. Das gelang im Jahre 1261. Gleich darauf hat Genua die Flotte der Pisaner vernichtet und deren Kolonien eingezogen (1268). So erreichte der Handels- und Industriestaat Genua rasch den Gipfel seiner Macht. Mit aller Energie waren die Genueser bemüht, das Buchseite 43 Monopol des indischen Handels zu gewinnen durch Auffindung eines eigenen Handelsweges nach Indien; zunächst über das Kaspische Meer und den Persischen Golf, dann auf dem Seewege um Afrika herum. Genua schien die erste Handelsmacht der christlichen Welt werden zu wollen. Das konnte sich das nicht minder energisch aufstrebende Venedig unmöglich gefallen lassen, denn es wäre sein sicherer Untergang gewesen! So begann denn der mehr als hundertjährige gegenseitige Vernichtungskrieg zwischen Genua und Venedig (1240—1381). Die wichtigsten Kolonien trennten sich vom Mutterlande und waren stark genug, die Wiedereroberungsversuche von Genua blutig abzuweisen. Der Export in gewerblichen Erzeugnissen, wie der Import des unentbehrlichen Brotgetreides und der Rohstoffe für die gewerbliche Produktion kamen ins Stocken, Hungersnöte mit blutigen Bürgerkriegen folgten einander bis im Jahre 1396 Genua sich freiwillig unter die Oberhoheit Frankreichs, eines grösseren Staates mit mehr Land und mehr Bauern, stellte.

(Vergl. Band II, Seite 381—397.)

hat es wohl am besten verstanden, jene gewaltige Kolonialbewegung, welche mit den Kreuzzügen erwachte, in rücksichtsloser Weise für sich auszubeuten. Wo immer in den damaligen Wirren gerade eine gute Beute zu machen war, gleichgültig, ob Muhammedaner oder Christen dadurch geschädigt wurden, da wusste die damals schon bedeutende Seemacht Venedigs immer rasch zuzugreifen. Bald gehörten der Lagunenstadt neben den Küsten des Adriatischen Meeres, die das Schiffbauholz lieferten, die wertvollsten Kolonien der östlichen Hälfte der Mittelmeerländer mit den wichtigsten Handelsprivilegien von Aegypten und Syrien bis nach dem Don und der Wolga. Nach Gründung des lateinischen Kaiserreichs (1204) war Venedig auf dem besten Wege, das Monopol über den ganzen Levantehandel zu erringen. So sehr lag damals der Schwerpunkt der venetianischen Volkswirtschaft in den Kolonien, dass ein Doge allen Ernstes den Antrag stellen konnte, die Venetianer möchten nach Konstantinopel, als der Hauptstadt ihres Reiches, übersiedeln.

Mit dem Reichtum Venedigs wuchs auch die Zahl seiner Feinde. Der mehr als hundertjährige Konkurrenzkrieg mit Genua (1240—1381) führte zu einem Bündnis von Genua mit Ungarn, Oesterreich und Carrara gegen Venedig. Dem folgte das siegreiche Vordringen der Türkenherrschaft. Aus dieser höchsten Not lernten die klugen Buchseite 45 Venetianer eine totale Aenderung ihrer Politik. Jetzt erkannte man endlich, dass die fern im Auslande gelegenen Kolonien wahrscheinlich doch nicht zu halten seien und dass zur besseren Sicherung der Brotversorgung der Hauptstadt, wie zu ihrer Verteidigung gegen äussere Feinde ein breiterer, mit Bauern besetzter Erdgürtel des angrenzenden Festlandes weit wertvoller sei. Sie eroberten deshalb in den Jahren 1427—1448 so viel als möglich von diesem Landgebiet in ihrer Nachbarschaft und behandelten dauernd die hier ansässigen Bauern mit kluger Rücksicht. Das immer energischere Vordringen der Türkenherrschaft erschwerte bald den Levantehandel ausserordentlich. Und, als dann noch der indische Gewürzhandel nach Lissabon, der Sklavenhandel nach Spanien und dem Atlantischen Ozean übersiedelten, schrumpfte der venetianische Welthandel auf den Absatz der eigenen industriellen Produkte zusammen. Das einst so kriegerische Volk erstrebte jetzt nach aussen „Frieden und Neutralität“ um jeden Preis, während in der inneren Politik umfassende staatssozialistische Massnahmen für das Proletariat und ein furchtbares Strafverfahren jede politische Reaktion sofort erstickte, in einer Hauptstadt, deren Ausdehnung durch das Meer begrenzt wurde. Als aber auch dieser Staat in den napoleonischen Kriegen ein unrühmliches Ende fand, da waren es die immer gut behandelten Bauern auf der „terra firma“, die trotz der gewaltigen Uebermacht des Feindes den Mut fanden, für Freiheit und Ehre des Staates Venedig zu den Waffen zu greifen.

Besonderes Interesse bietet noch die Geschichte der Kolonialpolitik Venedigs auf Kreta. Zunächst versuchten es auch die Venetianer hier mit dem „Assessorismus“ und der rein kapitalistischen Organisation. Als aber diese Regierungsform rasch gründlich Fiasko machte, entschlossen sich die klugen Venetianer zu Anfang des Buchseite 46 XIII. Jahrhunderts, den Weg zu gehen, den schon 4 Jahrhunderte vorher Karl der Grosse, und damals etwa gleichzeitig die Fürsten von Norddeutschland in ihrer Kolonialpolitik östlich der Elbe gegangen waren, nämlich den der Naturalwirtschaft bei lehensstaatlicher Organisation. Ausgewählte venetianische Familien, welche sich auf Kreta mit Kind und Kegel dauernd niederzulassen bereit waren und die Verteidigung des Landes übernahmen, erhielten daselbst unter Oberhoheit des venetianischen Staates wertvolle Grundbesitzungen mit einer entsprechenden Zahl der einheimischen Bevölkerung als dienstpflichtige Hintersassen. Diese Kolonialreform hat sich ausgezeichnet bewährt. Nur dass sich Venedig nicht entschliessen konnte, mit der Geldwirtschaft zugunsten der reinen Naturalwirtschaft ganz zu brechen. Die venetianischen Ritter auf Kreta waren zu Naturalabgaben an den Staat verpflichtet. Wenn aber eine Missernte keine naturalen Ueberschüsse liess, waren die Ritter gehalten, entsprechende Geldzahlungen zu leisten. Da die Ritter als Regel keine Geldeinnahmen hatten, folgte daraus ein Verschuldungszwang bei Wucherern zu Wucherzinsen. Bald war die ganze Ritterschaft in den Händen von wenigen Wuchern. Die kleinen Mittel, welche Venedig dagegen zur Anwendung brachte, änderte die missliche Lage wenig. So kam es denn zu einem furchtbaren Aufstand der Ritter gegen die kapitalistische Herrschaft des Mutterlandes, der schliesslich im Blute erstickt wurde. Die Politik der halben Reformmassregeln dauerte an und erzeugte unter der ganzen kolonialen Bevölkerung eine so tiefe Erbitterung, dass die Eroberung Kretas durch die Türken (1669) mit ihrer reinen Naturalwirtschaft als eine Befreiung aus den unheilvollen Fesseln des Kapitalismus von der Bevölkerung allseitig begrüsst wurde.

(Vergl. Band II, Seite 222—242.)

Im Jahre 1263 hatte Portugal im wesentlichen sein heutiges Landgebiet im Kampfe gegen die Araber zurückerobert. Schon vorher war die königliche Gewalt bemüht, die volkswirtschaftliche Entwicklung in der Heimat zu verankern und auf dem Bauernstand und der eigenen Arbeit zu gründen. Die von den Bauern und Gewerbetreibenden beklagte kapitalistische Ausbeutung wurde energisch abgestellt. Da zwangen die Angriffe Kastiliens zu einem Freiheitskampfe, nach dessen Siegen der kühne Plan gefasst wurde, die Welt zu erobern und die Segnungen des Christentums um den Erdkreis zu tragen. Eine planmässige Vorbereitung und Ausführung erfuhr das Auffinden des Seeweges nach Ostindien (1498). Inzwischen hatte Christoph Columbus für Spanien Amerika entdeckt (1492). So wurde für beide Staaten (1494) ein Staatsvertrag über die Teilung der Welt in zwei Hälften notwendig. Das kleine Portugal erhielt Brasilien, Afrika und Indien und trug deshalb den stolzen Titel: „Königin dreier Erdteile“.

Die volkswirtschaftliche Entwicklung der Heimat stand noch in den Kinderschuhen der Kupferwährung, als der neue Kolonialreichtum einströmte. In der besten Zeit soll Portugal allein aus Indien jährlich über 800 Millionen Mark vereinnahmt haben. Wie wirkte dieser Reichtum? Ein glänzender üppiger Luxus entwickelte sich am Königshofe und sickerte von da hinab in das Volk. Die Brotversorgung Buchseite 48 durch die eigenen Bauern im eigenen Lande ging rasch verloren. Immer mehr ausländisches Getreide wurde zu immer billigeren Preisen eingeführt; denn die Bauern verkauften ihr Land und wanderten nach den Kolonien aus. In der Heimat bildeten sich gewaltige Latifundien, welche als Schafweiden benutzt wurden. Das Bettlerunwesen nahm in höchst bedenklicher Weise Überhand. Namentlich in der Kolonialverwaltung fand eine ungeheure Korruption Eingang, die nur 22 Jahre nach der ersten Besitzergreifung in Ostindien von Vasco da Gama selbst noch aufgedeckt, aber nicht abgestellt werden konnte. Die schamlose Ausplünderung der kolonialen Bevölkerung rief immer wieder blutige Aufstände wach, deren Niederwerfung ausserordentliche Ausgaben verursachte. Auch Heer und Marine wurde bald unzuverlässig. Und nun begannen die räuberischen Einfälle der Holländer, Engländer und Franzosen in die portugiesischen Kolonien. In diesen erbitterten Kolonialkämpfen stand die Kolonialbevölkerung immer auf Seiten der Feinde der Portugiesen. Etwa 1740 war Portugals Macht in Indien gebrochen. Unter den Wirren der Napoleonischen Kriege hat sich die Lostrennung Brasiliens vollzogen. Die ökonomische Ergiebigkeit Afrikas ist seit Unterdrückung des Sklavenhandels wesentlich zurückgegangen. Die Habgier, mit welcher die Kolonien ausgeplündert wurden, hatte sich selbst das Grab gegraben. Der koloniale Reichtum ist verschwunden, die Masse des Volkes ärmer geworden, als sie vor Beginn dieser äusserlich so glänzenden kolonialen Erwerbungen war. Die schwer vernachlässigte heimische Bodenkultur kann für die dünne Bevölkerung das Brot immer noch nicht liefern. Der Reichtum hat sich in wenigen Händen angesammelt. Die leere Staatskasse ist nicht in der Lage, den kulturellen Aufgaben der Gegenwart zu genügen. Bürgerkriege, Staatsbankrott, revolutionäre, sozialistische und anarchistische Buchseite 49 Bewegungen erschütterten immer wieder das Land, das seine Heimatpolitik etwa dort wieder anzufangen bemüht ist, wo es dieselbe vor 400 Jahren zu Beginn seiner kolonialen Eroberungen verlassen hat.

(Vergl. Band II, Seite 242—287.)

hat in fast 800jährigem Kampfe (711—1492) die Herrschaft der Araber innerhalb seiner Landesgrenzen gebrochen. Dann war das Königtum im besten Zuge, eine treffliche Ordnung der heimischen Verhältnisse zu schaffen, um das Volk einer besseren Zukunft entgegenzuführen. Die bösen Sitten, den Bauernstand und die Gewerbetreibenden auszubeuten, wurden abgeschafft und das Land energisch von Wucherern aller Art durch die Könige befreit. Da brachte Kolumbus im Geiste des niedergebrochenen Handelsstaates Genua den Plan, einen westlichen Seeweg nach Ostindien aufzufinden und entdeckte hierbei Amerika (1492). Sofort schien auch der König von der völkermordenden Krankheit der Goldgier befallen zu sein. Kalt und geschäftsmässig lautete seine Instruktion an die kolonialen Eroberer: „Sucht Gold, wenn möglich ohne Grausamkeit. Jedenfalls sucht Gold zu bekommen! Hier habt Ihr Vollmachten!“ Der Auftrag wurde gewissenhaft befolgt. In den Jahren 1493 bis 1600 sollen etwa 4027 Millionen Mark Gold allein, ohne das Silber, aus den Kolonien nach Spanien geflossen sein. Ganz Amerika, mit Ausnahme von Brasilien, aber mit den Inseln im stillen Ozean, gehörte in kurzer Zeit den Spaniern, welche hier im Jagen nach Gold und Gewinn weit schlimmer wie die Pest gehaust haben. Kann es da überraschen, dass sich in dem Empfinden der kolonialen Bevölkerung ein tiefer Hass gegen die spanischen Eroberer festsetzte?

Buchseite 51 Seit dem letzten Viertel des XVI. Jahrhunderts begann der staatlich privilegierte Seeraub der englischen, holländischen und französischen Schiffe auch gegen die spanischen Kolonien. Die spanischen Silberflotten und Goldsendungen wurden von ihnen unterwegs auf dem Meere wiederholt abgefangen. Ein gewaltiger Schleichhandel organisierte sich nach den spanischen Kolonien. Die Gold- und Silberquellen gingen bei dem herrschenden Raubbau bald auf die Neige. Die spanischen gewerblichen Produkte kamen eines Tages aus den Kolonien unverkauft und unverkäuflich wieder zurück.

Wie war es inzwischen in der Heimat ergangen? Auch hier traf der koloniale Goldstrom ein Volk bei Kupferwährung. Die neue Sucht nach dem Golde lockte die kräftigen, gesunden Bauern zur Auswanderung und hat so die dünne Bevölkerung noch mehr gelichtet. Der neue Reichtum sammelte sich in wenigen Händen und führte rasch zum Aufkauf der Bauerngüter, an deren Stelle grosskapitalistische Latifundien traten. Der König kümmerte sich darum wenig. Seine grossen Schätze liessen ihn den Plan der Weltherrschaft ernstlich in Ausführung nehmen. Deutlich wurde die ganze Weltherrschaft für ganz Europa bemerkbar und führte zu endlosen Kriegen, die so lange dauerten, bis die erobernde Macht der spanischen Herrscher gebrochen war. Zur Bestreitung dieser ungeheuren Kriegskosten reichten die Schätze der Kolonien um so weniger aus, je mehr der Zufluss der Edelmetalle von dort abzuflauen begann. Die Steuerschraube im eigenen Lande musste daher bemüht sein, für die Ehre des Vaterlandes den letzten erreichbaren Groschen noch herauszupressen. Das alles rief im eigenen Lande Vernichtung von Industrie und Handel, blutige Bürgeraufstände und Abtrennungen einzelner Landesteile vom Gesamtstaate hervor. Die schlimmste Korruption fand Eingang in der Beamtenwelt. Buchseite 52 Die Staatsbankrotte liessen nicht lange auf sich warten. Der Getreideüberschuss des Landes aus früherer Zeit hatte sich nach Beginn der Kolonialpolitik rasch in einen empfindlichen Getreidemangel verwandelt. Ueberall breitete sich das Bettler- und Vagabundenwesen aus. Die reichen Kolonien sind verloren gegangen. Bürgerkriege und Staatsbankrotte lösen seitdem miteinander ab. Sozialistische und anarchistische Strömungen nisteten sich namentlich in den grösseren Städten ein. Neben den grossen Reichtümern von Wenigen steht die Armut der Volksmassen. So hat Spanien heute an jenen schweren Wunden zu heilen, welche die durch seine Kolonialpolitik entfachte Gier nach Reichtum und Weltherrschaft seinem volkswirtschaftlichen Körper geschlagen hat.

(Vergl. Band II, Seite 397—406.)

war bereits ein Handelsstaat, als in der 2. Hälfte des XVI. Jahrhunderts seine Losreissung vom spanischen Weltreich erfolgte. Die heimische Landwirtschaft spielte nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Brotversorgung des heimischen Volkes lag in der Hand des Handels. Die Beseitigung der spanischen Herrschaft bedeutete zugleich den vollen Sieg der kapitalistischen Ideen. Der Profit allein hatte von jetzt ab zu entscheiden, ob eine wirtschaftliche Tat zulässig oder unzulässig sei. Der Befreiungskrieg der Holländer in Europa wurde in den spanischen Kolonien als privilegierter Seeraub und als Eroberungskrieg geführt. Als aber die armen Eingeborenen durch ihre eigene Mithilfe aus der Gewalt der Spanier und Portugiesen in die der Holländer gekommen waren, wurde ihr Los ein noch schlechteres. Die holländischen Kolonien wurden durch grosse Kolonial- und Handelsgesellschaften „fruktifiziert“, deren Anteilscheine an der Amsterdamer Börse gehandelt wurden. Jetzt galt nur der Verwaltungsgrundsatz: möglichst hohe Geldgewinne erzielen! Mit dem ganzen Raffinement kapitalistischer Ausbeutungskünste wurde hierbei zu Werke gegangen. Soweit die verfügbaren Gewaltmittel reichten, wurde alles Greifbare als gute Beute einer Volkswirtschaft angesehen, deren Oberleitung in der Hand der führenden Börsianer in Amsterdam lag. Hier kam zuerst in ganz moderner Durchbildung das Bank- und BörsenBuchseite 54kapital zur Herrschaft. Der Börsenkurs bewertete Krieg und Frieden, Sieg und Niederlage der Truppen, er diskontierte im voraus den Ertrag der redlichen Arbeit wie auch der Raubgier in den Kolonien und wusste die vom mühelosen Gewinn betörte Bevölkerung bis zur „Tulpen-Manie“ zu führen. Trotz der fast fortgesetzten kriegerischen Konflikte blieb bei einem so tollen Tanzen ums goldene Kalb für ernstere Erwägungen zur Sicherung der Zukunft kein Raum. Marine und Landheer wurden dauernd vernachlässigt. In den französischen Revolutionskriegen kam das holländische Gebiet ohne Widerstand in den Besitz der alten Handelskonkurrenten Frankreich und England.

(Vergl. Band II, Seite 320—351.)

blieb von der Zeit der Römer her in seiner südlichen Hälfte, auch nach seiner Besitzergreifung durch die Germanen, von einer stärkeren Dosis kapitalistischer Wirtschaft durchsetzt. In der nördlichen Hälfte herrschte bei überwiegender Naturalwirtschaft die lehensstaatliche Verfassung. Das französische Königtum kam in Anlehnung an den geldwirtschaftlichen Süden früh schon zu grösserer Macht. Der unausbleibliche Konflikt mit dem lehensstaatlichen Norden wurde um so ernster, je grösser der Machtzuwachs dieser Vasallen durch ihre Eroberung Englands geworden war. So kam es auch zu dem mehr als hundertjährigen Kriege zwischen Frankreich und England. Die immer mehr sich ausbreitende Geldwirtschaft hat hier das englische Königtum verhältnismässig früh zum Absolutismus und zum modernen Einheitsstaate geführt. Der letzte grosse Konflikt zwischen Geldwirtschaft und Lehensstaat nahm in den Hugenottenkriegen die Form eines religiösen Bürgerkrieges an. Von da ab entwickelte sich das Wesen des Kapitalismus auf dem Fürstenthrone immer schärfer. Mit Gift und Dolch, Richtschwert und Bestechungsgeldern ward seine Herrschaft begründet. Mit fast zahllosen Eroberungskriegen gegen die Nachbarn, wie auf den verschiedenen grossen kolonialen Gebieten der Erde sollte seine Macht immer weiter ausgebreitet werden. Aber mit dem Reichtum wuchs auch die königliche Genussucht und Verschwendung in solchem Buchseite 56 Masse, dass das Volk die Kosten dieses Luxus und der Kriege um so weniger tragen konnte, je massloser die königliche Willkürherrschaft auf allen wirtschaftlichen Gebieten sich ausbreitete. In fast unzähligen Bauernaufständen strebte die gesunde Reaktion des Volkskörpers, die kapitalistischen Misstände abzustellen. Man hat sie alle verständnislos niedergeschlagen. Seit Anfang des XVIII. Jahrhunderts begannen sozialistische und kommunistische Ideen sich auszubreiten. Nachdem der Versuch der privilegierten Börsenspekulation, mit Papiergeld und Ausnutzung der kolonialen Werte der längst chronisch gewordenen Geldnot der Staatskasse abzuhelfen, kläglich misslang, führte der allgemeine Bankrott der königlichen Finanzwirtschaft zur grossen französichen Revolution, seit welcher Zeit das Land nie mehr recht zur Ruhe gekommen ist. Wenn trotzdem der Sozialismus bis heute noch keine tieferen wirtschaftlichen Schäden angerichtet hat, so verdankt Frankreich das vor allem der grösseren Zahl seiner Bauern.

(Vergl. Band II, Seite 287—320.)

Die Geschichte des heutigen Englands beginnt mit Wilhelm dem Eroberer und seinem Domesday-Book. Durch diese eigenartige Urkunde wurde die sonst im naturwissenschaftlichen [? naturalwirtschaftlichem] Lehensstaate übliche Entwicklung verhütet zu Gunsten des Reichtums der Könige und so die Kampflust der Ritter und Herren auf den Kampf um den Königsthron selbst wie auf Eroberungen im Auslande abgelenkt. Reichtum und Macht des Königs begünstigten ein despotisches Regiment. Dieses einigte wieder die Grossen des Reiches unter sich und liess in politischen und wirtschaftlichen Notlagen des Königs mit diesem besondere Rechtsverträge abschliessen, aus denen nach und nach die englische Verfassung entwachsen ist. Das Land hatte ursprünglich die reine Naturalwirtschaft. Die Geldverhältnisse wurden erst geordnet, als England in die europäische Kreuzzugssbewegung einzutreten begann. Handel und Geldwirtschaft lagen damals zumeist in den Händen von Ausländern. Unter den gegebenen Verhältnissen musste sich das eindringende Handels- und Leihkapital vor allem an den König wenden, welcher gegen Kreditgewährungen und Zollzahlungen die Ausfuhr von Getreide bewilligte. Konnte der König den Ausländern seine Schulden nicht mehr zahlen, so sorgte der Bankrott für Abschreibung derselben. Das hat die fremdländischen Kapitalisten schwer geschädigt und das Aufkommen englischer Kapitalisten erleichtert, die dann bald die Ausländer verdrängten.

Buchseite 58 Inzwischen war der englische König durch Vernichtung des hohen Adels und Konfiskation der Kirchengüter immer reicher an Landbesitz geworden. Seine Geldeinnahmen steigerten sich namentlich durch das Aufblühen der Wollindustrie. Die Ausbreitung des Industriekapitals begann. Der hiermit in der Gesellschaft sich ansammelnde Reichtum leitete den Aufkauf und die Verdrängung der Bauern ein und führte hier zur Latifundienbildung. Die Vorstellungen der Bauern gegen diese Entwicklung blieben fast unbeachtet. Der nachfolgende Bauernaufstand wurde verständnislos unterdrückt. Gleichzeitig begann die sozialistische Literatur. Die kapitalistische Entwicklung schritt weiter zum Ausbau des Bank- und Börsenkapitals. Der Absatz der industriellen Produkte wurde durch koloniale Raub- und Eroberungskriege begünstigt. Der Konflikt zwischen dem Kapitalismus in der Gesellschaft und dem Kapitalismus auf dem Königsthrone führte zur englischen Revolution, welche so lange dauerte, bis die englische Verfassung reinlich den fürstlichen Kapitalismus beseitigte. Der König konnte fortan „kein Unrecht tun“. Dieses Privileg blieb ausschliesslich dem gesellschaftlichen Kapitalismus vorbehalten, den die Staatsgewalt in seinen Raubzügen verschiedenster Art tunlichst zu unterstützen hatte. So ist das moderne England entstanden. Dem Verlust des Bauernstandes bei Latifundienbildung ist auch hier der Verlust des Getreidebaues gefolgt. Die Brotversorgung des Volkes liegt seitdem in der Hand des Handels. Eine breitere Klasse des selbständigen Mittelstandes gibt es in England nicht. Der kleinen Zahl der Reichen steht unvermittelt die Masse der Proletarier gegenüber, unter denen sich sozialistische Strömungen stetig ausbreiten trotz Arbeiterschutzgesetze. Die volkswirtschaftlichen Interessen Englands sind über die ganze Welt zerstreut. Das Risiko der Fortexistenz des Staates wurde damit ausserordentlich erhöht.

Der grundlegende Begriff der volkswirtschaftlichen Pathologie ist der „Kapitalismus“. Die reine Naturalwirtschaft kennt auch in dem arbeitsteiligen Lehensstaate den Kapitalismus nicht. Die Ausbreitung des Kapitalismus hat die Einführung des Geldes und die Ausbreitung der Geldwirtschaft zur Voraussetzung. Das Geld ist der einzige und ungemein günstige Nährboden für die Ausbreitung des Kapitalismus. Es lassen sich deshalb drei Entwicklungsstufen für den Uebergang der physiologischen zur pathologischen Entwicklung unterscheiden, nämlich:

Naturalwirtschaft,
Geldwirtschaft,
Kapitalistenwirtschaft.

Das Recht der Naturalwirtschaft im Allgemeinen und das Recht an Grund und Boden im Besonderen ist überall organisch mit dem betr. Volke aufgewachsen. Das kapitalistische Recht im Allgemeinen, das Handels- und Kreditrecht im Besonderen ist im Rahmen unserer geschichtlichen Kenntnisse nirgends mit einem Volke „geworden“. Dieses Recht wurde allen Völkern immer von einem sogenannten „höher entwickelten“, in Wahrheit kapitalistisch durch und durch erkrankten Volke übertragen. Die Rechtswissenschaft bezeichnet diese Uebertragung des kapitalistischen Rechtes mit dem Worte „Rezeption“. Im Kapitalistenrecht ist deshalb eine Gemeinschaft aller Kapitalisten-Völker der Weltgeschichte enthalten, während das Agrarrecht der NaturalBuchseite 60wirtschaft aus dem lebendigen Bedürfnis jedes Volkes hervorgewachsen ist. An den heute irgendwo geltenden Rechtsätzen für Handel und Geldverkehr hat die raffinierteste Erwerbssucht der Kapitalisten seit Jahrtausenden mitgearbeitet. Dieses Kapitalistenrecht schafft die veränderten Bedingungen, unter denen sich die pathologische Entwicklung des Völkerlebens im Besonderen ausgestaltet.

An dieser pathologischen Entwicklung lassen sich als Regel drei Stufen unterscheiden:

Die erste Stufe des Handels- und Leihkapitals;
die zweite Stufe des Industriekapitals;
die dritte Stufe des Bank- und Börsenkapitals.

Wesentlich verändert wird das Krankheitsbild, sobald der Kapitalismus sich nicht nur innerhalb der Gesellschaft ausbreitet, sondern die Zentralgewalt des Staates in ihrer ganzen Regierungstätigkeit erfasst, der Kapitalismus also auf dem Fürstenthrone sitzt. So entsteht der Gegensatz des „Kapitalismus in der Gesellschaft“ und des „Kapitalismus auf dem Fürstenthrone“, dem sich im Mittelalter noch der „Kapitalismus in der Kirche“ hinzugesellte.

Das Krankheitsbild in seinem Entwicklungsverlaufe ist bei dem „Kapitalismus in der Gesellschaft“ in der Hauptsache folgendes:

Ein naturalwirtschaftlich geordnetes Volk wird von ausländischen Händlern als Vertreter einer kapitalistischen Volkswirtschaft besucht. Jedes kapitalistische Volk ist arm an Getreide und reich an Geld und Waren. Jedes Volk in Naturalwirtschaft hat grosse Vorräte an Getreide und wenig Geld und Waren. Hier scheint ein natürlicher Ausgleich möglich. Das kapitalistische Volk gibt Geld und Waren für den Ueberschuss an Getreide des agrarischen Volkes. Fast ahnungslos werden dabei die Reserven an Brotgetreide veräussert und ausgeführt. Dann kommt plötzlich ein Missjahr. Die heimischen Getreideerträge allein Buchseite 61 reichen nicht aus, den Hunger des Volkes zu stillen. Es kommt deshalb zu einer wesentlichen Preissteigerung für Getreide, gross genug, um eine Getreidezufuhr von auswärts rentabel zu machen. Das hungernde Volk der Naturalwirtschaft kauft jetzt einen wesentlichen Teil seines Getreidebedarfs, nimmt in entsprechendem Betrage Gelddarlehen auf, für deren Rückzahlung es sich mit seinem Vermögen, mit seinen Freunden und Kindern, mit seiner persönlichen Freiheit verpfändet. In kurzer Zeit gehört das alles den Kapitalisten, die nicht nur Ausländer sind, zu denen vielmehr auch alle an Herz und Nieren kapitalistisch gewordenen Grossgrundbesitzer gehören, welche durch die Einführung der fremden Rechtsgebräuche in der Ausbeutung des Volkes unterstützt werden

Die Reaktion des im Kern noch gesunden agrarischen Volkskörpers gegen diese Ausbreitung des Kapitalismus zeigt sich in der so typischen Form der Bauernkriege. Die Bauern verlangen ihr gutes altes Recht zurück und deshalb Abschaffung des neuen Kapitalistenrechtes. Wo die Bauernbewegung die Oberhand gewinnt, führt sie zur Wiedergesundung des Volkskörpers. Wo die Bauernkriege verständnislos niedergeworfen werden, erfasst von da ab rasch der Kapitalismus die ganze Volkswirtschaft. Indes wird auch dort, wo die Bauern siegen, und allgemeine Anerkennung mit ihren Forderungen finden, die Ausbreitung der kapitalistischen Entwicklung zumeist nur verzögert, aber nicht dauernd verhindert. Denn diese bäuerlichen Bewegungen sind rein praktisch-politische Bewegungen. Die Bauern kennen nur ihre eigenen Leiden, die sie ungerecht zu erdulden haben. Sie kennen nicht die objektive Natur der Krankheit des Kapitalismus. Ihre rein praktischen Vorschläge sind dem drohenden Uebel gegenüber kein „reines“ Mittel, sie kennen nur die Abstellung von vorhandenen Misständen, sie kennen nicht das mindestens gleich Buchseite 62 wichtige Vorbeugen und Verhüten einer neuerlichen Krankheitsinfektion. So bleiben nach jeder bäuerlichen Reformgesetzgebung genügend Schlupfwinkel im Volkskörper zum Verbergen der kapitalistischen Keime. Schliesslich hat das alles auch bei dauernden kriegerischen Konflikten mit kapitalistischen Nachbarn, oder bei einem immer mehr sich ausbreitenden friedlichen Verkehr mit kapitalistischen Völkern ganz besondere Schwierigkeiten.

Die weitere Krankheitsentwicklung nimmt von jetzt ab wesentlich andere Formen an. Kriege und koloniale Erwerbungen lockten zumeist auch dort, wo die agrarische Bewegung vorher gesiegt hatte, die Bauern aus ihrer Heimat weg. Die glänzenden Siege der Bauernheere bringen ungeheure Kriegsbeuten nach der Heimat. Die ökonomischen Verhältnisse scheinen allgemein gegen früher wesentlich besser, jedenfalls wesentlich reicher. Ein vorher ungeahnter Aufschwung von Industrie und Handel macht sich breit. Das Bank- und Börsenkapital kommt bald zur Herrschaft. Die reich gewordenen Geldfürsten kaufen die Bauern aus und erwerben so Latifundien als Luxusbesitz. Mit den Bauern verschwindet der Getreidebau. Die Brotversorgung des Volkes wird eine Sache des Handels. Der Mittelstand in Stadt und Land verschwindet. Einer kleinen Zahl der reichen Leute steht die Masse der Proletarier gegenüber. Unter einem trügerischen äusseren Glanze wird nur zu leicht übersehen, dass der Volkskörper seine gesunde, kernige feste Natur ganz zu verlieren droht. Das Rennen und Jagen nach Gold und Gewinn, das Ringen um die Weltherrschaft oder doch um die Welthandelsherrschaft hat die zusammengehörenden Volksinteressen über die ganze Welt zerstreut, ganz ungleichartige Völkergruppen zusammengewürfelt, den Bezug von Getreide und Rohmaterial für die gewerblich-industrielle Produktion, den Absatz der industriellen Erzeugnisse überallhin verteilt. Buchseite 63 Irgend welche Störungen aus irgend welchem Wetterwinkel der Erde rufen jetzt im Volkskörper Krisen hervor, die um so leichter bis aufs Mark greifen können, je mehr mit der Längenausdehnung der nationalen Interessen die Verteidigungsschwierigkeiten quadratisch gewachsen sind und je vollständiger inzwischen in der Heimat die gesunden Grundzellen, der Mittelstand, welcher Arbeitswerkzeug und Arbeit in einer Person organisch vereinigt, sich zersetzt haben in wenige „Reiche“ und in die Masse der „Besitzlosen“. Der Luxus der Reichen wird immer massloser. Korruption und Verschlechterung der Sitten machen sich überall geltend. Fast alles scheint bestechlich. Das Bettlerunwesen mit der Armenversorgung wird zu einer öffentlichen Kalamität. Die kapitalistische Entwicklung treibt ihren letzten Krisen zu.

Eine stetig wachsende Zahl von Personen erkennt die herrschenden Zustände als unhaltbar. Weil aber die Krankheit des Kapitalismus fast alle Teile des Volkskörpers erfasst hat, fehlt den auftauchenden Reformbestrebungen die Anlehnung an gesunde Verhältnisse. Die Reformvorschläge sind deshalb in der Richtung einer Fortentwicklung der herrschenden Krankheitszustände gedacht und werden als „Sozialismus“, „Kommunismus“ und „Anarchismus“ bezeichnet. Die Machtmittel des Staates sind längst nur im Dienste der kapitalistischen Interessen tätig. Zur Eintreibung wucherischer Gewinne der Kapitalisten werden unzählige Kriege geführt. Von einem gewissen Zeitpunkte ab beginnt dann auch in der Heimat der Kampf der „Reichen um die Beute“, womit sich soziale Revolutionsströmungen und Ueberfälle äusserer Feinde verbinden. Das letzte Stündlein hat geschlagen, das sich freilich mit seinen furchtbaren Blutszenen dort sehr in die Länge ziehen kann, wo es an einem einigermassen ebenbürtigen äusseren Feinde fehlt.

Buchseite 64 Wo der „Kapitalismus auf dem Fürstenthrone“ sass, führte in der Geschichte der alten Völker die Konkurrenz mit dem „Kapitalismus in der Gesellschaft“ in der Regel zur Beseitigung der fürstlichen Macht. In der Geschichte der neuen Völker wurde dieser Konkurrenzkampf durch die „Verfassung“ beendet, soweit sich dieselbe als „reines“ Mittel zur Beseitigung des fürstlichen Kapitalismus bewährte.

Der „Kapitalismus in der mittelalterlichen Kirche“, welcher den Kampf zwischen „Kirche“ und „Staat“ und zwischen „Kirche“ und „Kapitalismus in der Gesellschaft“ und zwar als verschiedene Reformationsbewegungen hervorrief, fand seinen naturgemässen Abschluss durch freiwilligen Verzicht der Kirche auf kapitalistischen Erwerb.



          Vorheriger Abschnitt Nächster Abschnitt          
Inhalt Band 3
        Impressum Links          

Valid HTML 4.01! Valid CSS!